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23.12.06 / Die ostpreußische Familie (extra) / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / 23. Dezember 2006

Die ostpreußische Familie (extra)
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied und Freunde unserer großen Ostpreußischen Familie,

es ist nun schon Tradition geworden, daß es zu Weihnachten neben der üblichen Familien-Kolumne eine "Extra-Familie" gibt. Das begann vor einigen Jahren eigentlich aus einer gewissen Platznot heraus, denn damals war unsere Spalte wirklich eine solche, schmal und nur auf die wichtigsten Themen begrenzt, fast im Telegrammstil gehalten. Aber gerade zum Fest häuften sich die Zuschriften, die oft recht umfangreich waren, es kamen sehr bewegende Schilderungen dazu, die nicht mit wenigen Worten abgespeist werden konnten, und so kam es zu einer Sonderseite zum Fest, zu unserer "Weihnachtsfamilie". Und obgleich unsere Wochenkolumne inzwischen keiner Diätkur mehr unterliegt, wollen wir diesen Brauch beibehalten.

Und so beginne ich gleich mit der für mich eindruckvollsten Geschichte dieses Jahres mit einer glücklichen Lösung, die allerdings auch ein paar Wermutstropfen enthält, denn sie kam zu spät für das "Wolfskind", das seine Identität finden wollte - nicht aber für seine Familie und seine Schwester, die den Bruder ein Leben lang gesucht hat. Er lebte auch in Litauen - aber nie haben sie sich gefunden, bis dann im vergangenen Jahr durch den Suchwunsch seiner Witwe die Klärung kam, die durch unsere Ostpreußische Familie erfolgte. Wir haben sehr eingehend darüber berichtet und wollen die Geschichte von unserer Seite nicht wieder aufrollen. Dafür lassen wir die Schwester sprechen, denn sie ist nun den Spuren nachgegangen, die zu dem verlorenen Bruder führten. Sigrid Meyer-Schipporeit berichtet:

"In zwei Ausgaben des Ostpreußenblattes ist von einem ‚Wolfskind' die Rede, das im Jahr 1947 im Alter von neun Jahren seiner Mutter Marta Schipporeit und seinen beiden Geschwistern Sigrid und Stefan abhanden kam. Seine Mutter hat ihren Sohn Carl-Ulrich Schipporeit im Jahr 1960 für tot erklären lassen. Nunmehr hat sich herausgestellt, daß Ulli, wie er von uns genannt wurde, überlebt hat, von einer litauischen Familie adoptiert wurde, den Namen Kasis Gerulis bekam, mit 23 Jahren heiratete und daß aus der Ehe fünf Kinder hervorgegangen sind. Er verstarb leider sehr früh mit 48 Jahren durch einen Unfall. Seine Witwe Elena Geruliene, die jetzt in Kazlu, Ruda, lebt, hat mit mir durch das Ostpreußenblatt Kontakt aufgenommen und den Wunsch geäußert, mich und meine Familie kennenzulernen.

Am 20. Juli 2006 flogen mein Mann und ich von München nach Vilnius. Dort wurden wir von Nelli, einer litauischen Deutschlehrerin, empfangen und fuhren mit einem Leihwagen nach Bagotoji, einem Dorf in der Nähe von Kazlu, Ruda. Der Empfang durch meine Schwägerin Elena und ihre Familie war aufregend, herzlich und tränenreich. Fünf Tage konnten wir die überaus große Gastfreundschaft genießen und viel über meinen Bruder Ulli und seinen Schicksalsweg erfahren. Er begann 1947 mit jenem Tag, an dem der Neunjährige allein unter gefährlichen Umständen mit dem Güterzug von Königsberg nach Litauen fuhr. Meine Mutter war damals sehr krank, und ich mußte bei ihr und meinem dreijährigen Bruder Stefan bleiben. Ulli kam nicht zurück. Wir warteten drei Monate und machten uns dann auch auf den Weg nach Litauen, denn wir wollten nicht verhungern wie meine Oma und Tante. In fast jedem Dorf fragten wir nach einem deutschen Jungen, aber niemand hatte Ulli gesehen. Wir kamen bis in die Nähe von Ukmerge, wo wir bis 1951 blieben und dann nach Deutschland kamen, nachdem kurz zuvor Stefan im Krankenhaus von Kaunas verstorben war.

Und wie erging es Ulli? Darüber konnte vor allem sein langjähriger litauischer Freund Petras Auskunft geben. Ulli wurde 1947 von einer Frau in Kaunas aufgegriffen und in ein Dorf gebracht, wo er Ziegen hüten mußte. Als einige der Tiere abhanden gekommen waren, lief er aus Angst weg und wurde von einem Litauer gefunden, der ihn zu einer Familie in Bagotoji brachte, die ihn aufnahm. Vier Jahre lang ging er zur Schule, schloß mit seinem Mitschüler Petras Freundschaft, bekam Anschluß zu dessen Familie, zu der Petras ältere Schwester Elena gehörte. 1961 heirateten Ulli und Elena und bekamen mit der Zeit drei Kinder. Als sein Adoptivvater starb, mußte er mit seiner Familie dessen Anwesen übernehmen, um die Witwe und den Hof zu versorgen. Hier kamen noch Zwillinge zur Welt. Auf Betreiben von Petras besuchte Ulli eine Landwirtschaftsschule, auf der er zum Maschinisten ausgebildet wurde. Dann begann sein Leidensweg: Nach einem Unfall mit einem Traktor litt er unter quälenden Kopfschmerzen, die auch nach einer Operation in Kaunas nicht verschwanden. Er wurde arbeitsunfähig und depressiv. Sein Leben endete 1986 nach einem Unfall durch Starkstrom. Elena hat sich vor 18 Jahren ein Haus gekauft und dort ihre fünf Kinder großgezogen. Diese haben nun auch wieder Familien gegründet und leben in geordneten Verhältnissen. So habe ich nun 19 neue Verwandte bekommen, und es ist für mich eine Genugtuung, daß mein Bruder in seinen Nachkommen weiter lebt. Danken möchte ich an dieser Stelle dem Ostpreußenblatt, vor allem der Ostpreußischen Familie, die mich auf die Spuren meines Bruders gebracht hat!"

Soweit Sigrid Meier-Schipporeit. Ihr Brief war für mich der bewegendste dieses Jahres, zumal viele Leserinnen und Leser während der Suche und nach der Lösung regen Anteil an dem Schicksal des Mannes genommen hatten, der immer nach Mutter und Geschwistern gesucht hatte. Er ist sogar einmal mit seiner Frau nach Königsberg gefahren, ist in Metgethen gewesen, glaubte auch, sein Elternhaus gefunden zu haben. Nur: Er konnte sich an seinen richtigen Namen nicht erinnern, wodurch sich bei der beiderseitigen Suche Fehler ergaben, die ein früheres Finden verhinderten. Seine Schwester hat vor zehn Jahren ihre Erinnerungen für Enkel und Urenkel in einem kleinen Büchlein festgehalten und es mit kleinen Zeichnungen versehen. Darunter auch mit einer von ihrem Elternhaus in Metgethen - nichtsahnend, daß ihr vermißter Bruder dort seine Wurzeln gesucht hatte.

Bleiben wir in Litauen und schließen die Frage an: Wie geht es dem kleinen Mantas, unserm "Christkind", über das wir in jeder Weihnachtsausgabe berichten? Weil seine Rettung allein auf persönlichem Engagement, großer Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe beruht und damit dem Urenkel einer Elchniederungerin der Weg in ein normales Leben mit guten Zukunftschancen ermöglicht wird. Wie es dazu kam, ist kurz erzählt: Vor acht Jahren wurde Herr Dr. Detlef Arntzen, geborener und bekennender Königsberger, auf einer Heimatreise in Ruß von einer älteren Frau angesprochen, die ihn inständig bat, ihr ein paar alte "Koddern" zu senden. Für ihr Urenkelchen, dem "immer das Wasser aus dem Bauch lief". Es fehlten dem damals vierjährigen Jungen verschiedene Organe im Unterleib. Seine Lebenserwartung war nur kurz, eine Operation schien unmöglich. Dem Angesprochenen ließ dieses Schicksal keine Ruhe, er besorgte nicht nur Windeln und Leibbinden, sondern bemühte sich um eine Untersuchung des Kindes in Deutschland. Lassen wir aber nun Herrn Dr. Arntzen selber berichten. Wir entnehmen seine Ausführungen einem Dankesbrief an die 212 Spender, durch die tatsächlich die Rettung des kleinen Mantas ermöglicht wurde. Die konkrete Hilfe begann im August 1997, als nach verschiedenen Fernsehberichten vom Landesfunkhaus Kiel, in denen um Spenden gebeten wurde, genügend Geld beim Diakonischen Werk zusammengekommen war, um eine erste, sehr schwierige Operation durch Herrn Prof. Stöckle in Kiel zu ermöglichen. Daß diese gelungen war, bestätigt Dr. Arntzen in seinem Bericht:

"Im September 1998 kamen Mantas, seine Mutter Raßa und Uroma Ursula Jakumeit wieder nach Kiel, die Ärzte waren mit Mantas Zustand sehr zufrieden. Die Nachuntersuchungen im Juli 2000 und in Juni 2002 erbrachten das gleiche Ergebnis. Im Juli 2003 konnte die zweite notwendige Operation erfolgen, die von Frau Dr. Fisch in Hamburg-Harburg durchgeführt wurde. Alles lief gut, schon nach einer Woche konnte Mantas aus dem Krankenhaus entlassen werden und noch ein paar schöne Tage in Hamburg verbringen. Genau ein Jahr später kam Mantas zur weiteren Nachuntersuchung in Hamburg-Harburg, die wiederum gute Ergebnisse erbrachte."

Uroma Jakumeit, die mit ihrer Bitte alles in die Wege gebracht hatte, war inzwischen verstorben. Aber sie hatte doch noch miterleben können, daß ihr Urenkel in ein weitgehend normales Leben hineinwuchs. Das konnten wir schon in unserm Mantas-Bericht zum Weihnachtsfest 2005 veröffentlichen. Daß aus dem todkranken Kind ein aufgeweckter, ja kluger Junge geworden ist, bestätigt Dr. Arntzen erneut: "Seit diesem Jahr geht der Zwölfjährige auf das Gymnasium in Kedainiai, ist gesund und will Schiffsingenieur werden. Er bekommt häufig von mir Schiffsfotos zugeschickt. Seine Mutter erzählt, daß er sehr viel für die Schule arbeite. Im Sommer 2008 wird Mantas zur vielleicht letzten Nachuntersuchung nach Hamburg kommen." Und er schließt seinen Bericht mit diesen Worten: "Es ist ein gutes Gefühl, daß wir es zusammen geschafft haben, einem kranken Kind zu helfen, ein einzelner und nur wenige hätten das nicht gekonnt. Einen Dank allen, die dabei geholfen haben!" Und den übermittele ich hiermit weiter an alle Spenderinnen und Spender aus unserm Familienkreis - und das sind nicht wenige!

Auf manchem Gabentisch wird er honigfarben schimmern, Erinnerung an die Heimat und Gruß von ihrer Küste zugleich: Bernstein - "der Vorzeit Träne", wie die Dichterin Johanna Ambrosius unser ostpreußisches Gold in ihrem Gedicht "Sie sagen all, du bist nicht schön ..." so einfühlsam bezeichnet. Es gibt nun einmal keinen schöneren Schmuck für uns, und das kam in vielen Zuschriften zum Ausdruck, die ich zu meinem Bericht über den letzten Direktor der Staatlichen Bernstein-Manufaktur Königsberg, Gerhard Rasch, erhielt. So schrieb die Allensteinerin Gisela Engelhardt: "Ich meine, ich habe dazu viel zu ergänzen. Mein Mann Georg Engelhardt, * 1914, war ein Freund von Jan Holschuh, dem künstlerischen Leiter der SBM in Königsberg. So besitze ich einen wunderschönen Bernsteinanhänger, extra für mich entworfen, im Originalkästchen. Das beste und schönste Bernstein-Museum gibt es in Ribnitz-Damgarten mit einem eigenen Raum für Jan Holschuh und seine Sammlung. Mein Mann und ich haben das Museum einige Male besucht, es gibt nichts Gleichwertiges. Man gerät in Verzückkung, fühlt sich wie zu Hause ..." Die Erinnerungen unserer Leserin Irmgard Stoschek gehen nach Cranz, wo ihre Tante im Hotel "Schloß am Meer" die Bernsteinarbeiten der Königsberger Manufaktur verkaufte. Für sie als kleine Marjell war es das Schönste, den Schmuck auf dem Tablett zu ordnen und die Schächtelchen für die verkauften Schmuckstücke bereitzuhalten. Und es wurde gut gekauft, denn die meisten Urlauber nahmen sich ein Bernsteinstück als Souvenir mit. Durch die großen Fenster konnte die kleine Irmgard auch die Cranzer Fischfrauen beobachten, die auf dem Platz mit dem "Anker" ihre frisch geräucherten Flundern anboten. Nie wieder - und da stimme ich ihr bedingungslos zu - hat sie solche köstlichen Flundern gegessen wie damals in Cranz. Und dann muß ich mich bei Christine Schober aus Stuttgart für die Bernsteingaben bedanken, mit denen sie mich überraschte. Die Freude, die Sie, liebe Frau Schober, mir bereiteten, wird noch lange anhalten und mir die Kraft geben, die Sie mir wünschen. Das kleine Bernsteinstück trage ich immer als Talisman in meiner Tasche. Und natürlich steht auf meinem Weihnachtstisch auch der Tannenzapfen mit Bernsteinstückchen, den ich von einer lieben Heimatgefährtin im Ostheim bekam.

Doch noch einmal zu "Papa Rasch", wie dieser so fröhliche, vitale, lebensfrohe Mann genannt wurde - eigentlich hätten ihn nur seine Kinder so nennen dürfen. Sein Sohn Peter schrieb mir einen Brief, der zu den für mich schönsten gehört, die ich in diesem Jahr bekommen habe. Er wird auch viele Leserinnen anrühren, denn Peter Rasch spricht nicht nur über seinen Vater, sondern auch über seine Mutter Selma in liebevollen Worten, die eigentlich für alle ostpreußischen Mütter gelten könnten, und paßt deshalb auch in diese Zeit. Peter Rasch schreibt: "Ich danke Ihnen für den Bericht über Papa Rasch, meinen Vater. Ich war gerührt, und die Gänsehaut lief über meinen Rücken. Auch meine Mutter haben Sie erwähnt. Danke. Meine Eltern können den Artikel nicht mehr lesen, aber er ist eine schöne nachträgliche Würdigung. Meine Mutter war eine besonders starke Frau. Sie hinterließ meiner Schwester und mir Berichte, Aufzeichnungen und Fotos von früher. Ich hatte nie gewußt, daß es diese Dinge gab. Um so mehr hat es mich aufgewühlt, daß ich alles las und betrachtete. Es war ein Gang durch meine behütete Kindheit, meine Jugendzeit und meine ersten beruflichen Schritte ... Im Nachlaß fand ich Bücher vom Bernstein. Einige habe ich mitgenommen nach Ulm, und auch Bilder, Lampen, Vasen, Bernsteinstücke und Schmuck. Hier habe ich alle aufgestellt und einen kleinen Teil des Wohnzimmers meiner Eltern nachgebaut. Hier sitze ich gerne, hier empfinde ich innere Ruhe, hier bin ich meinen Eltern nahe. Besonders meiner Mutter, mit der ich nach dem Tode meines Vaters 1981 täglich telefoniert habe, ob aus dem In- oder Ausland. Da sie in den letzten Jahren nicht mehr viel auf die Straße ging, freute sie sich immer ... Sie war geistig sehr rege. Es war eine schöne Zeit mit ihr. Ihre Würdigung ist ein krönender Abschluß eines langen Lebens mit schönen Zeiten, aber auch voller Mühe, Plage und Traurigkeit in den Kriegswirren und auf der Flucht aus ihrer Heimatstadt Königsberg. Aber immer hat sie uns beschützt. Macht wohl jede Mutter ... Für uns war sie die beste Mutter der Welt. Ich bin sehr, sehr dankbar. Jetzt, in den reiferen Jahren, weiß man erst zu schätzen, was sie für uns getan hat. Aber in den vergangenen 25 Jahren habe ich mich immer wieder bedankt und habe ihr etwas von der Fürsorge und Pflege zurückgeben können. Ich war froh, daß ich für sie da sein konnte.

Liebe Frau Geede, ich bin dankbar, daß ich Ihnen das schreiben konnte." Und ich bin Ihnen, lieber Peter Rasch, dankbar für diesen Brief! Als Mutter und im Namen vieler Mütter.

Eure Ruth Geede

Fotos: Frauen und Bernstein: Nicht nur Ostpreußinnen freuen sich über Schmuckstücke aus dem ostpreußischen Gold auf dem Gabentisch; Mantas Stankevic (Osman)


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