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17.03.07 / Blitzableiter / Fast jeder Mensch hat einen Tick

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-07 vom 17. März 2007

Blitzableiter
Fast jeder Mensch hat einen Tick
von Corinna Weinert

Ganz gleich ob Arzt, Busfahrer, Hochschulprofessorin, Polizist, Tanzschullehrer oder Verkäuferin, jeder kennt sie - und jeder hat auch welche: komische Angewohnheiten, die man nicht mehr loswird. Beobachten wir unsere Mitmenschen einmal genauer, so fallen uns manchmal seltsame Verhaltensweisen an ihnen auf:

Die Sekretärin aus dem Vorstandsbüro beißt sich auf die Lippen, während sie Briefe schreibt, der Marketingassistent drückt seine Nase immer wieder mit Daumen und Zeigefinger zusammen, wenn er Unterlagen durchliest, die beste Freundin dreht ihre Haare zu wilden Knäueln, während sie einen Krimi im Fernsehen schaut, die Nachbarin knibbelt an den Niednägeln, wenn sie sich mit uns unterhält, und der Herzallerliebste drückt am Kugelschreiber die Mine raus und rein, während er Kreuzworträtsel löst.

Ganz gleich, welcher Alters- oder Berufsgruppe wir angehören, jeder von uns hat solche persönlichen, teilweise auch merkwürdig erscheinenden Eigenarten, die gemeinhin auch als Tick, Macke, Marotte, Spleen oder ähnliches bezeichnet werden, an sich. Sie begleiten uns täglich, ohne daß wir es wirklich bemerken. Wie aber kommen sie zustande?

"Hiermit versuchen wir, Streß-ereignisse zu kompensieren", erklärt die Psychologin Gabriele Berg. Streßereignisse sind unter anderem Situationen, in denen wir uns nicht wohl fühlen, oder in denen es uns nicht möglich ist, das zu tun, was wir gerne tun würden. Bei einer Prüfung können wir nicht aufstehen und gehen, bei einer Meinungsverschiedenheit mit dem Vorgesetzten nicht lauthals losschimpfen, auch wenn uns danach ist. So kommt es dann zu Übersprungshandlungen: Wir fahren uns mit den Händen durch die Haare, zupfen an der Kleidung oder tun sonstiges, ohne es zu merken.

"Übersprungshandlungen sind Handlungen, die aus einem ganz anderen Kontext stammen und an einer fremden Stelle eingebaut werden", meint Berg, "die Tätigkeiten beziehungsweise Vorgänge laufen unkontrolliert vom Bewußtsein und ohne Beteiligung des Willens ab."

Aus Sicht der Verhaltensbiologie setzten derartige Reaktionen ein, wenn zwei Impulse bestehen, die nicht miteinander beziehungsweise in ihrer Ausführung nicht miteinander vereinbar sind. Das ist beispielsweise der Fall, wenn - wie bei einem Streit - gleichzeitig der Antrieb für Angriff und Flucht besteht. Hierbei wird die Spannung so groß, daß eine Übersprunghandlung einsetzt, die dann keinem der ursprünglichen Impulse entspricht. Viele solcher Handlungsweisen kennen wir aus dem Tierreich. Häufig angeführt wird dabei das Verhalten der kämpfenden Hähne, die plötzlich auf dem Boden umher picken, als würden sie Futter aufnehmen.

Gedeutet wird diese Situation als Ausdruck für eine gleich starke Flucht- und Kampf-Motivation, was als Übersprungbewegung "Futterpicken" hervorruft. Nach einem solchen "Zwischenspiel" wird der Kampf in der Regel fortgesetzt. Lachmöwen-Männchen unterbrechen einen Kampf gelegentlich und zeigen die Bewegungsweise des Grasabrupfens, die dem Funktionskreis des Nestbauens zuzuordnen ist. Seeschwalben führen an ihrem Nistplatz Putzbewegungen durch, wenn sie in Konflikt zwischen Angriff und Flucht stehen.

"In einer Vogelkolonie leben die Tiere dicht beieinander. Wird die persönliche Distanz der in den Nestern sitzenden Tiere unterschritten, indem einzelne ,Mitbewohner' zwischen den Nestern umherlaufen, geraten die Tiere in Konflikt zwischen Angriff und Flucht. Das führt dann oft zu einem Übersprungsverhalten: Die Tiere putzen sich die Federn", erklärt der Ornithologe Karsten Lutz.

Gleiches ist auf den Menschen übertragbar. "Ich kann im überfüllten Fahrstuhl niemanden hauen, wenn ich mich bedrängt fühle, das erlaubt der soziale Kontext nicht, also kratze ich mich am Kopf, rücke die Krawatte zurecht oder sammle Fusseln von der Jacke", erläutert Berg.

"Die Körperberührung stammt evolutionsgeschichtlich aus der Zeit vor der Menschheit, als wir durch Körperpflege uns und unsere Artgenossen beruhigt haben. Im Tierreich wird Fellpflege nur betrieben, wenn eine geschützte Situation gegeben ist; bei Gefahr ist Fellpflege nämlich nicht möglich.

Wir wenden derartige Verhaltensweisen heute noch unbewußt an, um uns bei Streß zu entspannen", meint die Psychologin, "Solche Handlungen sind gewissermaßen ,Blitzableiter' für unbehagliche Gefühle."

Das Nägelkauen gehört übrigens auch in die Rubrik der Übersprungshandlungen. "Nägelkauen ist immer eine Reaktion auf Streß oder Überforderung", erklärt Berg, "es handelt sich um eine Angewohnheit, die bei verschiedensten Anlässen auftreten kann und eine gewisse Befriedigung und Entlastung mit sich bringt."

Mitunter kann Nägelkauen allerdings - wie einige andere Angewohnheiten auch - zu einem Zwang werden, der behandlungsbedürftig ist.


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