20.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
24.03.07 / Mit Füßen getreten / Russische Soldatenmütter kämpfen gegen Militär-Hierarchie

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 12-07 vom 24. März 2007

Mit Füßen getreten
Russische Soldatenmütter kämpfen gegen Militär-Hierarchie
von Daniela Haussmann

Trauer tragen die Plakate an der Wand. Übergroß, in roten Lettern, steht auf schwarzem Grund "Tschetschenien" geschrieben. Eine Landkarte, übersät mit Kreuzen, berichtet stumm von einer Politik, die unzählige Menschenschicksale auf dem Gewissen hat. "Wenn Du für den Krieg stimmst, lege Geld zurück für das Begräbnis Deiner Kinder", rät Walentina Melnikowa, Generalsekretärin des Komitees der Soldatenmütter und als Rußlands streitbarste Frau bekannt. Derzeit besucht sie die Sektion der Soldatenmütter in Rostow am Don, um rechtliche Aufklärungsarbeit zu leisten und Eltern dabei zu helfen, ihre nach dem Einzug in die Armee verschollenen Kinder zu finden. "Jahrelang bleiben Mütter und Väter im Ungewissen, was mit ihren Söhnen geschehen ist", erklärt Melnikowa, die sich für das Engagement in einem Bereich entschieden hat, in dem es mehr Mauern als Wege gibt. "Unsere Soldaten sind nichts wert. Sie werden geschlagen, mißhandelt, psychisch unter Druck gesetzt, ja sogar zum Suizid gezwungen. Das ist die herrschende Militär-Hierarchie."

Das Komitee der Soldatenmütter ist noch ein "Kind" von Michail Gorbatschows Glasnost- und Perestrojka-Periode und wurde bereits 1989 gegründet. Walentina Melnikowa ist seit Anfang an dabei. Gemessen am Bekanntheitsgrad und der Akzeptanz in der Bevölkerung ist das Komitee Rußlands erfolgreichste Nichtregierungsorganisation (NGO). Jährlich wenden sich etwa 40000 Bürger an alle Sektionen der NGO. Mit mehr als 5000 toten Rekruten, die außerhalb eines Kampfeinsatzes ums Leben gekommen sind, haben es die Soldatenmütter jährlich zu tun. Insbesondere handelte es sich dabei um Erschießungen von Kameraden, um Opfer von unglaublichen Erniedrigungen, Folter und Gewalt.

"Vergewaltigungen kommen bei den Streitkräften häufig vor", erklärt Walentina Melnikowa. "Sie ist eine Methode, um die Menschenwürde zu brechen, damit diese Person später auch andere mißhandelt." In ganz Rußland wenden sich deshalb Eltern von Wehrpflichtigen massenweise an die Organisation der Soldatenmütter, weil sie sich um Gesundheit, Leben, Ehre und Würde ihrer Söhne sorgen.

Svetlana Loschkina weiß, wovon Walentina Melnikowa spricht. Die Frau aus dem südrussischen Rostow am Don hat ihren Sohn aus dem ersten Krieg in Tschetschenien zurückgeholt. "Zuerst mußte er sich grün und blau schlagen lassen und dann wurde er auch noch in den Krieg geschickt, was er mir verschwieg", berichtet die 68jährige. Während ihre Finger auf jene Fotos deuten, auf denen das Gesicht ihres Jungen, gezeichnet von Schlägen und Fausthieben, zu sehen ist. "Ältere Rekruten, denen er unterstand, wollten Geld von ihm erpressen. Er hatte keines und dafür schlugen sie ihn." In der russischen Armee müßten die Rekruten ihre Ausrüstung selbst finanzieren.

Der Druck, unter dem die Soldaten stehen, sei groß, die Aggressivität untereinander hoch und Kameradschaft oft ein Fremdwort. Rekrut der russischen Armee zu sein habe Einfluß auf das gesamte Leben der Männer. An den psychischen Folgen ihrer von den Vorgesetzten mit Füßen getretenen Menschenrechte hätten nicht allein die Soldaten selbst zu leiden. "Die Familien sind ihrer Gewalt ausgesetzt", fährt die 68jährige mit starker Stimme fort. "Was die jungen Männer erdulden mußten, werden sie ihr ganzes Leben nicht vergessen. Gewalt, Alkoholismus, Drogensucht oder Suizid beschreiben nur einen Bruchteil der Auswirkungen, die der Dienst an der Waffe hat."

Rußland hat die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet, die Konventionen gegen Folter und Zwangsarbeit ratifiziert sowie bereits 1993 die Menschen- und Bürgerrechte im zweiten Kapitel der Verfassung der Russischen Föderation bekräftigt. Doch all die damit verbundenen Gesetze erfahren Loschkina zufolge eine unvollkommene Umsetzung. "Deshalb haben wir uns in einer Selbsthilfeorganisation zusammengeschlossen, um unsere Rechte zu verteidigen und durchzusetzen", so Loschkina

Stapelweise legen Ordner und Akten im Büro der Soldatenmütter Zeugnis über die Verletzungen des geltenden Rechts ab. Bilder von grün und blau geschlagenen Männern, ärztliche Gutachten und juristische Dokumente berichten von geschundenen Schicksalen, die den Weg zu Hilfe und Rat suchen. "Die größte Zahl der Gesetzesbrüche steht im Zusammenhang mit der ungesetzlichen Einberufung von jungen Männern, die das Recht auf Zurückstellung haben oder aus gesundheitlichen Gründen untauglich sind", erklärt Walentina Melnikowa jene Situation, die ihre tägliche Arbeit ausmacht. "Untaugliche Männer werden einberufen, auch solche mit Nervenkrankheiten, Schizophrenie, Epilepsie, Aids oder Hepatitis." Söhne würden zur Ableistung des Wehrdienstes in den Hochschulen, der Metro oder auf Spaziergängen festgenommen, erzählt Melnikowa. Häufig dringe die Miliz in die Wohnungen von Familien ein, um sie abzuholen. "Die meisten Mütter erfahren den Aufenthaltsort ihrer Kinder nach der Festnahme erst, wenn sie von ihnen aus der Militäreinheit angerufen werden."

Im Frühjahr 2006 wurde der Fall des 19jährigen Andrej Sytschow auch in der westlichen Welt bekannt. Der Rekrut wurde in einer Panzerfahrerschule in Tscheljabinsk von mehreren Vorgesetzten stundenlang mißhandelt. Als Folge mußten ihm beide Beine, die Genitalien und ein Finger amputiert werden. "Bei uns in Rußland ist die Armee nicht im Stande, den Persönlichkeitsschutz zu gewährleisten", klagt Melnikowa an. "Sie kann die Gesellschaft nicht schützen, vielmehr stellen Armee und Miliz das Schlimmste für die Würde des Menschen dar."

Foto: Von den eigenen Leuten zusammengeschlagen: Foto eines verprügelten Soldaten


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren