© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 18-07 vom 05. Mai 2007

Unruhen in Estland

Estland ist ein gespaltenes Land, die Esten ein verunsichertes Volk. Eine tiefe Kluft zwischen der wirtschaftlich prosperierenden Hauptstadt Reval (Tallinn) und der von sozialen Verwerfungen - Arbeitslosigkeit, Landflucht, Auswanderung, Alkoholismus und Selbstmorden - gezeichneten Provinz hat sich aufgetan. Auch die seit langem schwelenden inneren Spannungen mit den zu Sowjetzeiten zugezogenen etwa 500000 Russen könnten für das 1,35 Millionen Einwohner zählende Land zur Zerreißprobe werden.

Eine Ahnung von der Größe des Konfliktpotentials bekam die internationale Öffentlichkeit dieser Tage angesichts der Fernsehbilder aus der Hauptstadt. Das offizielle Estland unterstrich dort mit einem spektakulären geschichtspolitischen Akt seine hartnäckige Absage an die Behauptung von der "Befreiung" des Landes durch die Sowjetarmee im Jahre 1940 und dann wieder 1945. Ein innerstädtisches sowjetisches Siegesdenkmal wurde Ende April trotz massiver Ausschreitungen empörter Russen demontiert. Wie die Polizei mitteilte, kam bei den Krawallen in der Hauptstadt ein Mensch ums Leben und mehr als 40 erlitten Verletzungen; etwa 300 Personen seien festgenommen worden.

Der Denkmalssturz erfolgte aufgrund eines am 15. Februar dieses Jahres getroffenen Parlamentsbeschlusses über das Verbot der Zurschaustellung von Monumenten, die die "sowjetische Besatzung verherrlichen". Die seit 5. April im Riigikogu (Reichstag) regierende neue Mitte-Rechts-Koalition von Ministerpräsident Andrus Ansip ging es bei der Denkmalsentfernung um die "Seele der Nation". Das kleine Estland scheut auch diesmal nicht den Streit mit dem großen Nachbarn Rußland, das den Konflikt bewußt anheizt und instrumentalisiert. Der russische Senat verlangte bereits am 27. April den Abbruch der diplomatischen Beziehungen. Martin Schmidt