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02.06.07 / Faß mich nicht an und laß mich nicht los! / Sexueller Mißbrauch von Kindern und Jugendlichen erfolgt meist durch Täter aus dem nahen sozialen Umfeld

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 22-07 vom 02. Juni 2007

Faß mich nicht an und laß mich nicht los!
Sexueller Mißbrauch von Kindern und Jugendlichen erfolgt meist durch Täter aus dem nahen sozialen Umfeld
von Corinna Weinert

An jedem Tag werden in Deutschland 550 Kinder Opfer sexueller Gewalt. Die betreffenden Mädchen und Jungen erfahren Mißbrauch und Übergriffe in sehr unterschiedlicher Form. Die traumatisierenden Erlebnisse haben für die Opfer weitreichende Folgen - oft ein Leben lang.

"Wir hatten gehofft, du vergißt das", waren die Worte, die Doris H. von ihrer Mutter zu hören bekam, als sie den in ihrer Kindheit erlebten Mißbrauch ansprach. "Das vergißt man nie", sagt Doris H. "Ich kann mich noch genau daran erinnern", erklärt sie, "ich war damals dreieinhalb."

Doris H. ist kein Einzelfall. Mißbrauch kommt so häufig vor, daß man davon ausgehen kann, in jeder Kindergartengruppe, in jeder Schulklasse, in jeder Nachbarschaft oder Verwandtschaft Kinder zu finden, die schon einmal Opfer sexueller Gewalt geworden sind. Laut Statistik widerfahren jedem dritten bis vierten Mädchen und jedem siebten bis achten Jungen in der Kindheit oder Jugend derartige Übergriffe durch Erwachsene.

Das Bild, das die breite Öffentlichkeit von sexueller Gewalt hat, ist in mancherlei Hinsicht verzerrt. Viele Menschen glauben, daß Mißbrauch überwiegend durch Fremde erfolgt, weil darüber ausführlich in den Medien berichtet wird. So wie der Fall Stephanie. Die 13jährige Schülerin aus Dresden verschwand im Januar 2006 spurlos. Fünf Wochen wurde das Mädchen von einem vorbestraften Triebtäter in dessen Wohnung gefangengehalten, bis die Polizei es befreite. Oder der Fall Mitja. Der neunjährige Junge aus Leipzig wurde im Februar 2007 von einem bereits fünfmal verurteilten Triebtäter vergewaltigt und anschließend getötet. "Hier muß man erst einmal mit falschen Vorstellungen aufräumen", erklärt Carmen Kerger, Diplom-Pädagogin und Referentin vom Hamburger Verein "Dunkelziffer e. V.", der sich um betroffene Mädchen und Jungen kümmert.. "Sexueller Mißbrauch durch Fremde kommt im Verhältnis eher selten vor, zu 75 bis 80 Prozent erfolgen die Übergriffe im nahen sozialen Bereich. Meistens sind die Täter Personen, die das Kind kennt, wie etwa ein Freund der Familie, ein Nachbar, der Erzieher im Kindergarten, der Jugendgruppenleiter, der Sporttrainer oder andere. Ein weiterer Teil der Täter kommt aus der Familie - so unfaßbar es scheint: Es sind der Vater, der Stiefvater oder Partner der Mutter, der Opa, der Onkel, der ältere Bruder, manchmal auch die Mutter oder Tante, also Menschen, denen die Kinder vertrauen, die sie lieben, von denen sie existentiell abhängig sind", sagt die Diplom-Pädagogin. Für viele betroffene Mädchen und Jungen beginnt der Mißbrauch durch Familienangehörige besonders früh, manchmal schon im Säuglings- und Kleinkindalter, so wie bei Doris H., wo es der Vater war, der sich an der Tochter verging. "Es geht solchen Menschen nicht in erster Linie um das Befriedigen sexueller Bedürfnisse, es geht um das Ausleben von Gewalt, von Macht und Überlegenheit auf sexueller Ebene." Mißbrauch ist meist eine Wiederholungstat, die über Monate oder sogar Jahre andauern kann. Oftmals findet im Vorfeld ein Annäherungsprozeß statt, bei dem die Täter die Grenzen der Kinder testen, oder sie schaffen einen Kontext, in dem eigentlich "nichts passiert" ist, zum Beispiel tarnen sie die Übergriffe in einem Spiel, in Körperpflege oder medizinischen Untersuchungen. Die Kinder spüren, daß etwas nicht stimmt, sind verwirrt, glauben aber, sich geirrt zu haben. Mit der Zeit verlieren die Kinder das Vertrauen in andere Menschen, und sie verlieren das Vertrauen in sich selbst, denn sie zweifeln an ihrer eigenen Wahrnehmung. Die Kinder leben in ständiger Angst und Unsicherheit, fühlen sich den Übergriffen hilflos ausgeliefert. Die Täter versuchen, ihre Opfer mit allen Mitteln davon abzuhalten, sich jemandem anzuvertrauen. Doris H. hat die Worte von damals noch immer im Ohr: "Das darf deine Mutter nicht wissen, sonst regt sie sich wieder auf", und das wollte Doris H. auf keinen Fall. "Meine Mutter war damals nervlich sehr stark angegriffen", erinnert sie sich.

Auch wenn die meisten Mädchen und Jungen sich nicht trauen, offen über den Mißbrauch zu reden, so teilen sie sich dennoch mit, um die unerträgliche Situation zu beenden. Die Kinder meiden eventuell bestimmte Orte, Personen oder Situationen. Und sie versuchen, weitere Übergriffe zu verhindern. Sie sind vielleicht ganz besonders artig, gehen dem Täter aus dem Weg, bemühen sich, nicht aufzufallen, verbarrikadieren die Zimmertür mit Spielzeug, schlafen bei den Geschwistern im Bett und so weiter. Die verdeckten Hinweise sind aber für Dritte oft schwer verständlich. "Es gibt keinen Symptomkatalog", erklärt Kerger. "Bei jeder Veränderung im Verhalten der Kinder sollte man daran denken, daß ein Mißbrauch die Ursache sein kann", meint die Diplom-Pädagogin.

Mögliche Langzeitfolgen sind Angststörungen, Beziehungsstörungen, Depressionen, Eßstörungen, emotionale und kognitive Störungen, Persönlichkeitsstörungen, Schlafstörungen, Somatisierungsstörungen und selbstverletzendes Verhalten. Warum die Probleme bei einigen Betroffenen mehr und bei anderen weniger massiv werden, hat unterschiedliche Gründe. Sicher ist jedoch, daß sie um so schwerer sind, je früher der Mißbrauch beginnt. "Es hängt auch immer von der Persönlichkeit und der Umwelt ab", erklärt die Lüneburger Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Heidemarie Jung. "Die gleiche Handlung kann zu völlig unterschiedlichen Reaktionen führen. Kinder mit einem starkem Selbstbewußtsein und einem guten Rückhalt sind nach einer Weile der Regulierung und Beratung in der Lage, mit diesem Abschnitt abzuschließen, der Mißbrauch muß also nicht zwangsläufig zum übermächtigen Albtraum werden", weiß die Expertin. Es ist jedoch möglich, daß bestimmte Probleme später in Krisensituationen erneut auftreten.

Doris H. leidet seit Beginn der Pubertät wiederkehrend an Eßstörungen, und lange quälten sie auch Schlafstörungen. Freundschaften mit Gleichaltrigen zu schließen fiel der heranwachsenden Doris H. schwer, und am anderen Geschlecht war sie damals - anders als die Schulkameradinnen - nicht interessiert. Später, in der ersten Partnerschaft, war die Gefühlswelt der heute 38jährigen Mutter zweier Kinder stets in Aufruhr. "Faß mich nicht an, und laß mich nicht los" waren die Extreme, zwischen denen sie lebte.

Die traumatisierenden Erlebnisse der Kindheit sitzen tief. Menschen zu vertrauen fällt ihr bis heute schwer, insbesondere dann, wenn es um die Kinder geht. "Ich bin immer besorgt, wenn meine Kinder mit jemandem alleine sind", erklärt sie. "Oftmals neigen Eltern, die in ihrer Kindheit oder Jugend einen Mißbrauch erfahren haben, dann dazu, die eigenen Kinder über zu behüten, damit ihnen so etwas nicht passiert." Eine Gewähr bieten jedoch weder Kontrolle noch Vorsicht.

Wie aber kann man Kinder dann vor Mißbrauch schützen? "Es ist wichtig, Kinder vor bestimmten Handlungen und nicht vor bestimmten Menschen zu warnen", rät Kerger. "Ein wesentlicher Grundsatz ist, Kinder zu selbstbestimmten und selbstbewußten Menschen zu erziehen", meint Jung, "das beinhaltet, daß sie lernen, die eigenen Grenzen zu erkennen und zu verteidigen", so die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin.

"Kinder müssen wissen, daß man sich wehren darf", sagt Doris H., "ich habe meinem Großen beigebracht, daß er Personen, die etwas von ihm wollen, was er nicht mag oder nicht für richtig hält, darauf hinweist." Heidemarie Jung pflichtet dem bei: "Sage ,nein', wenn etwas nicht in Ordnung ist und hole dir Hilfe", so sollen die Kinder angewiesen werden, um einem potentiellen Täter die Möglichkeit für einen Übergriff bereits im Vorfeld zu nehmen.

Foto: Das Entsetzen ins Gesicht geschrieben: Was Kinder tagtäglich erleben und erleiden müssen, wird nicht immer aufgedeckt.


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