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02.06.07 / Mit den Augen eines Russen / Wie der Königsberger Avenir Petrowitsch Owsjanow die Geschichte des Ordensschlosses sieht

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 22-07 vom 02. Juni 2007

Mit den Augen eines Russen
Wie der Königsberger Avenir Petrowitsch Owsjanow die Geschichte des Ordensschlosses sieht

Burgen wie auch Menschen verfügen über "Reichtum", können aber auch "arm" sein. In diesem Sinne hatte die Burg von Labiau kein Glück, als sie dem Alter nach in die (gemäß der Klassifikation von Karl Heinz Klasen) fünfte Generation gekommen war. Es war eine Zeit, als das künstlerische Schaffen der Baumeister einen Zustand der Ruhe gefunden hatte und - wie es schien - alle Mittel der architektonischen Ausdruckskraft sowie des Reizes verausgabt waren.

Der Bau der Burg fiel zeitlich mit einer verhältnismäßig friedlichen "stagnierenden" Entwicklung des Ordensstaates zusammen, der vom Hochmeister Winrich von Kniprode (1352-1382) geleitet wurde, als die Interessen der Verteidigung dieses Staates in den Hintergrund getreten waren.

Und dennoch, wenn man auf die vorher geschehenen und nachfolgenden Ereignisse des "Daseins als Burg" blickt, dann kann man den Schluß ziehen, daß sie sich viel häufiger als andere Burgen auf dem "Kriegspfad" befunden hat.

Die ersten Festungsanlagen aus Holz an der Mündung des Flusses Deime entstanden noch im Jahre 1258 zum Schutze des eben erst eroberten Samlandes von Seiten des heutigen Kurischen Haffs und zur Sicherung der Wasserwege nach Königsberg, Memel, Tilsit sowie Ragnit. Häufige zwischenstaatliche Streitigkeiten mit dem benachbarten Litauen in der zweiten Hälfte des 13. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts nötigten dazu, das Festungsbauwerk zu vollenden, darunter auch die Burg von Labiau. Diese wurde aufs neue im Jahre 1360 auf einer Insel erbaut, die vom Fluß Deime und einem bogenförmigen künstlichen Graben gebildet worden war. Als Baumaterialien dienten Keramikziegel und Pflastersteine.

Das architektonische Äußere der Burg ist sehr anspruchslos. Ihre vier Seitenflügel mit einem späteren neugotischen Giebel, mit einem Pfahlzaun aus Ofenrohren sowie großen Fenstern und Toren, verziert von einer schmiedeeisernen alten dekorativen Schrift mit ineinander verschlungenen Buchstaben, hatten einen rein "zivilen" Charakter. Doch allein die nicht sehr ins Auge fallenden Dachkammer-Schießscharten - ausgelegt mit großdimensionalen Ziegeln, im Grätenstich gestickt -, Schießscharten der Artillerie-Kasematten eines späteren Gebäudes - gerichtet auf die Straße nach Königsberg - und mächtige Findlinge in der technischen Bauart eines gotischen Verbandes offenbarten die Burg als eine militärische Anlage.

Und dennoch zeigte ihr Interieur die wahre Bedeutsamkeit der Burg, ihre funktionale, architektonische und künstlerische Wichtigkeit. Es ist in der Tat selten, daß man einer derartigen Kombination von Tonnengewölben, Korbbogengewölben sowie sich windenden (Schleifenkurven ziehenden) Gewölben begegnen kann. Noch dazu, wo solch eine Vielfalt von Gewölben versehen ist mit kreuzartigen sowie getrennten birnenförmigen Rippen, mit solchen eingravierten Ornamenten an den Toren, die sich nach Richtungen benannt haben - Königsberger Tor, Tilsiter Tor sowie Insterburger Tor - und schließlich mit Übergängen in verschiedener Höhe sowie mit Galerien von halbkreisförmigem Umriß und anderes. Nach dem Jahre 1550, als Anna-Maria - zweite Ehefrau des Herzogs Albrecht der Brandenburger - Burgherrin geworden war, wurde ein Saal mit wunderschönen Wandgemälden geschaffen.

Die Zusammensetzung der Räume auf der Burg war für jene Zeit traditionell und spiegelte ihre Anatomie des "Alltags" sowie die Unabhängigkeit von der Umwelt wider - eine Fähigkeit, lang andauernden Belagerungen standzuhalten. Küchen, Speisesäle, Bierbrauereien, geräumige unterirdische Lebensmittel- und Kleiderlager sowie Depots, Arsenale und Waffenkammern, Werkstätten verschiedenartiger Spezialisierungen sowie Wirtschafts- und Hilfsgebäude begünstigten dies vollkommen. So ertrug die Burg während des Bürgerkrieges im Jahre 1454 die Belagerung durch Einwohner von Wehlau und mit ihnen verbündeter Bewohner von Allenburg. Und während des Bauernaufstands im Jahre 1525 kaufte sich die Burg sogar von den Angreifern durch einige Fässer Bier frei.

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts richtete sich hier der Kartographische Dienst ein. Es wurde sogar eine Karte von Labiau und seiner Umgebung erstellt.

Die Burg hinterließ Spuren in der Geschichte der preußischen Diplomatie. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm setzte hier die Unabhängigkeit seiner Untertanen gegenüber den Schweden durch. Daran erinnern ein in Stein gemeißeltes Relief des Großen Kurfürsten in der Mauer und der Text des Vertrages.

Naturkatastrophen und Kriegswirren der letzten drei Jahrhunderte sind über diese Burg und ihre Umgebung hinweggezogen: Brände, Überschwemmungen, Pest und Cholera.

Im Sommer des Jahres 1757, während des Siebenjährigen Krieges, versuchten russische Matrosen, an der Burg zu landen, und im Jahre 1758 marschierten hier in Richtung Königsberg Marschkolonnen durch sowie kilometerlange Trecks der Hauptkräfte der russischen Armee unter dem Kommando von General Wilhelm Graf von Fermor.

50 Jahre danach waren Burg und Umgebung erneut Schauplatz von Kampfhandlungen. Hier tobten die napoleonischen Feldzüge, es herrschte die französische Okkupation, und es wurde der für Preußen demütigende und unsichere Tilsiter Frieden geschlossen. Erst in den Dezembertagen des Jahres 1812 verkündete der Donner russischer Kanonen den Einwohnern von Labiau die kommende Freiheit.

In der abschließenden Etappe des Zweiten Weltkrieges waren die Burg Labiau und der angrenzende Flußabschnitt der Deime mit den am linken Ufer gelegenen ständigen Feueranlagen und Erdbunkern ein mächtiger Stützpunkt, der von Nordosten her den Königsberger Frontabschnitt sicherte. Die Deutschen waren bestrebt, den Vormarsch der sowjetischen Truppen zum Stehen zu bringen und hatten deshalb die Labiauer Brücke sowie die Eisdecke im Fahrwasserteil des Flusses Deime gesprengt. Einem erfolgreichen sowjetischen Angriff der Soldaten der 263. Schützendivision am 23. Januar 1945 kamen pioniermäßige Findigkeit und eine Bedienungsmannschaft aus Pionieren zu Hilfe. Ein über das Eis gelegter Bretterbelag sowie eine Floßbrücke aus in der Nähe gefundenen Fässern ließen es zu, mit Hilfe eines Sturmtrupps einen Burg-Brückenkopf in Besitz zu nehmen. Den Truppen, die an den Kämpfen beim Überwinden des Flusses Deime sowie bei der Einnahme von Labiau und anderen nahegelegenen Städten beteiligt waren, wurde auf Anordnung des WGK (Staatliches Kriegskommissariat) vom 23. Januar 1945 offiziell Dank und Anerkennung ausgesprochen, und zu ihren Ehren wurden in Moskau 20 Artilleriesalven Salut aus 224 Geschützrohren geschossen.

Es begann ein neues Leben der Burg. Ihre ersten "Besucher" nach dem Krieg waren deutsche Kriegsgefangene, der Stab einer fliegenden Luftwaffeneinheit sowie militärische Einheiten. Im Jahre 1948 wurde in einem der Seitenflügel ein Gefängnis geschaffen, und in einem anderen Flügel übte eine Stelle ihre Funktion aus, welche die verbliebene deutsche Bevölkerung in die Gebiete westlich von Oder und Neiße verbrachte. Die Burg stand auch in den Folgejahren nicht leer. "Getreideaufkaufstelle", Brotbäckerei, wissenschaftlich-restaurative Werkstätten, Kurse für Kraftfahrer (eine Art Fahrschule), Zweigstellen des Leningrader Institutes für Landwirtschaft und des Werkes "Bernstein" - das ist die bei weitem nicht vollständige Liste der "Mieter" der Burg.

Die Burg Labiau ist beginnend seit den Nachkriegsjahren und bis jetzt hin ein Forschungsobjekt - zuerst der "Kaliningrader geologisch-archäologischen Expedition" (KGAE) und nun auch der Abteilung für Nachforschungen nach Kulturwerten. Die Dokumente des Zentrums und deren Bestätigung noch im Jahre 1949 durch den deutschen Doktor der Kunstwissenschaft Gebhardt Strauß bezeugen die Lagerung von 30000 fotografischen Filmen in der Burg - mit Abbildungen von Kulturdenkmälern aus Ostpreußen sowie von unterschiedlichen Archivmaterialien. Nach der Erklärung von Strauß ist diese Operation von Mitarbeitern der Königsberger Verwaltung zum Schutze von Denkmälern der Provinz Anfang des Jahres 1945 durchgeführt worden.

In einem Teil der Archivmaterialien ist diese Erklärung vollständig bestätigt worden und hierfür spricht auch eine "Operation", durchgeführt nach drei Jahrzehnten von Mitarbeitern des Werkes "Bernstein". Es bezeugt dies Bürger Nikolai Petrowitsch Wassiljew: "Beim Umbau der Decke in drei Zimmern der Kanzlei des Werkes an der Nordwestseite der Burg wurden auf einer freien Fläche drei umfangreiche Ordner mit Dokumenten gefunden - auf jedem Ordner je drei Dienstsiegel mit dem Hakenkreuz und auf einzelnen Blättern mit Rotstift unterstrichen einige Wörter oder Zeilen. Die Akten haben wir im Burghof verbrannt. Ein Teil davon hat dort noch lange umhergelegen." Und hier ist erneut ein "Zeuge", nun schon ein Dokument geworden, das 20 Jahre lang zurückliegt: "Beim Umbau der Decke im Nordteil der Burg sind am Haupteingang einige Ordner und Schnellhefter aufgefunden worden - mit unbestimmten Dokumenten und einer Vielzahl von losen Papieren. Sie alle sind dem Beauftragten des Werkes ,Bernstein' übergeben worden. Der Familienname dieses Vertreters ist nicht festgehalten worden." Und so arbeiten auch wir. Die einen sind jahrzehntelang auf der Suche nach Dokumenten und Archivmaterialien, die Licht in die Schattenwirtschaft der Städte und Ortschaften bringen. Sie forschen über konstruktive Besonderheiten von alten Großbetrieben und Anlagen, über Dränagevorrichtungen, aber auch über uns zuteil gewordene Konstruktionen zahlreicher Befestigungsanlagen und über Stellen, wo vermutlichen Kulturgüter gelagert sind, untersuchen dies alles außerordentlich gewissenhaft und entziffern die Dinge. Andere aber (und solche Beispiele gibt es genug) finden rein zufällig etwas und vernichten es oder übermitteln es einem "anonymen" Repräsentanten. Und trotz alledem dauern die Forschungen über die Burg an, gehen ständig neue Angaben ein über das dortige Vorhandensein von unterirdischen Labyrinthen mit einer Abzweigung zur alten Kapelle hin. Das entscheidende Wort wird hierbei die neue Generation geophysikalischer Geräte sprechen - in den von unserer Abteilung koordiniert werdenden Organisationen.

Foto: Ordensschloß Labiau: Die Burg befindet sich östlich des Zentrums des gleichnamigen Ortes.


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