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02.06.07 / Flucht / Immer wieder der Schrecken

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 22-07 vom 02. Juni 2007

Flucht
Immer wieder der Schrecken
von Christel Bethke

Was für ein Traum! Es dauert eine Weile bis sie sich erkubert hat und begreift, daß sie - Gott sei Dank - warm und trocken in ihrem Seniorenbett liegt. Im Traum war sie noch zu Hause, lag in ihrem Kinderbett und fürchtete sich. Die Stimmung war ambivalent, bleiben oder gehen. Was wird sein, wenn die Russen kommen? Unglaubliche Spannung, Mutter wußte nicht ein noch aus.

Sie erwachte, in Angstschweiß gebadet. Sonja hatte erzählt, daß ihre Mutter versucht hatte, mit sechs Kindern zu flüchten. Auf dem Bahnhof das Chaos. Schon auf der Plattform waren sie eingekeilt, und ständig drohte eines der Kinder verloren zu gehen. Kein Zug weit und breit. Also Umkehr. Zuhause war der Herd noch warm.

Das Nachbarhaus war inzwischen getroffen worden und ausgebrannt. Zwei Nachbarkinder hatten dabei ihre Mutter verloren und "wir waren wie die kleinen Negerlein. Plötzlich waren wir acht". Also bleiben.

Aber die Geschichte kannte sie und sie konnte nicht der Grund sein für ihre Ängste. Es muß mit dem gestrigen Treffen zusammenhängen. Wie war das noch? Lydia war im neuen "Outfit" gekommen: eine wundervolle Daunensteppjacke mit pelzverbrämter Kapuze. "Ein Schnäppchen", sagte sie, "statt 279 nur noch 79 Euro." Sie hatten sich gefreut, daß Lydia für sich selbst mal Geld ausgegeben hatte. Das tat sie so selten, vielleicht, weil sie es auch nicht so dicke hatte. Auch ein paar Schuhe hatte sie erstanden. Schöne warme Winterschuhe. Die richtige Ausrüstung um übers Haff zu gehen. Das nun wieder!

Lag es an der Jacke oder am Sherry, den die Gastgeberin großzügig einschenkte, Lydia jedenfalls, die nie, niemals ein Wort von früher erzählte, legte plötzlich los. Vom kranken Vater, der nicht transportfähig war, dennoch darauf bestand, daß sie sich allein auf den Weg machten. Sie kamen nicht weit und als sie zurückkamen, lag der Vater tot im Bett. Dann das Übliche: Mutter versucht die Mädchen zu verstecken. Schrecken ohne Ende, der auch nach der Rettung nicht aufhört. Sie sind alle drei krank, nicht willkommen. Die kranke Schwester bekommt ein Kind. Ein Kind bekommt ein Kind. Mit der Zeit renkt sich alles mehr schlecht als recht ein. Seit zwanzig Jahren ist Lydia Witwe, hat zwei nette Töchter und Enkelchen. "Ich bin zufrieden", sagt sie, "kann ich mehr verlangen?"

Es vergeht aber kein Tag, berichtet sie, an dem sie nicht an das alles denken muß. Je älter sie wird, desto mehr wird sie von den Gedanken gequält. Niemals habe sie sich jemandem anvertraut. Nicht einmal mit der Mutter konnte sie über das alles sprechen. Die legte nur den Finger auf ihre Lippen, wenn sie davon anfangen wollte. "Die nahm alles mit ins Grab."

Sonja, die selbst einiges erlebt hatte, wollte Lydia ein wenig trösten. "Wir trinken jetzt auf uns", hatte sie gesagt, nach der Flasche gegriffen und tüchtig eingeschenkt. Ja, das muß es gewesen sein, was den Traum ausgelöst hatte. Auch in ihr selbst schlummerte noch der Schrecken und machte sich von Zeit zu Zeit bemerkbar. Was für eine Generation!

Welch ein Glück, keine Gefahr mehr. Sie konnte beruhigt noch ein Weilchen liegen bleiben und überlegen, ob sie nicht auch auf Schnäppchenjagd gehen sollte. Vielleicht auch eine Jacke? Oder Stiefel? Die sind in diesem Jahr hochmodern.

Wenn man es recht bedenkt, resümiert sie, waren sie eigentlich Helden und hätten einen Orden verdient.


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