24.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
09.06.07 / Tante Ilse und ihr Grabstein / Der Anschein ist oft trügerisch - der Mensch ist die Summe seiner Erfahrungen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 23-07 vom 09. Juni 2007

Tante Ilse und ihr Grabstein
Der Anschein ist oft trügerisch - der Mensch ist die Summe seiner Erfahrungen
von Wolf Wiechert

Eigentlich konnte ich sie gar nicht leiden. Das einzige Mal, daß ich sie überhaupt zu Gesicht bekam, war Ende der Vierziger, als sie uns besuchte, in diesen kargen Nachkriegsjahren, in denen man allenfalls einen Gast freudig aufnahm, der Brot mitbrachte und Butter und Speck. Aber Tante Ilse hatte selbst auch nichts, hatte eigentlich nie was gehabt, weil sie auch nie was gearbeitet hatte, und in diesen Hungerjahren erst recht nichts. Ich erinnere nur ihre kleine dürre Gestalt, ihre betuliche Sprechweise, ihr ungelenkes Umgehen mit uns Kindern. Natürlich hatte sie selbst keine Kinder, auch keinen Mann, zumindest keinen offiziellen, vorzeigbaren. In den letzten Kriegsjahren allerdings hätten manchmal in ihrem Zimmer Knobelbecher, Soldatenstiefel, gestanden, deren penetranter Geruch einem in die Nase gestiegen wäre.

Einmal während ihres Besuchs bei uns, also bei ihrer Schwester, unserer Mutter, als sie für längere Zeit unten auf dem Plumsklo verschwunden war, ließen wir Kinder unserem Unmut freien Lauf und schimpften kräftig über sie. Als wir gerade so richtig mittendrin waren, ging die Tür zum Wohnzimmer auf und Tante Ilse erschien mit dem Blick dessen, der Undankbarkeit, Unverschämtheit signalisierte. Sie hatte wohl alles mit anhören müssen.

Ansonsten kannte ich sie von Fotos, auf denen sie im Faltenrock und flockiger Bluse aufblickte, an einen Zaun gelehnt oder beim Streicheln von Schafen, und ich wußte aus Erzählungen, daß sie Klavier spielte, offensichtlich gut Klavier spielte, das unvermeidliche selbst gehäkelte Pelerinchen über die Schultern gelegt, jenen ärmellosen Umhang, den ihr in verschiedensten Farben Verehrerinnen geschenkt hatten. Das, das Klavierspielen, war wohl das Einzige, was sie vorzuweisen hatte und weshalb sie vermutlich auch das Lieblingskind meines Großvaters war, bei dem Musik gleich nach den Psalmen rangierte. So konnte sie sich zu Hause in Gerdauen, wohin meine Großeltern nach der Pensionierung meines Großvaters gezogen waren, auch leisten, spät aufzustehen. Wenn das Mittagessen schon fertig war, wies sie das Essen erstmal zurück, ging in die Stadt, vielleicht zu Tiefensee einkaufen, um danach sich das Essen erneut servieren zu lassen, sehr zur Empörung des Hausmädchens.

Das und noch mehr ging mir durch den Kopf, als wir in den Urlaub nach Norden fuhren, auf den Darß, westlich von der Insel Rügen, einmal nicht Italien oder Frankreich, aber auch nicht unbedingt Tante Ilse, sondern Radfahren, Naturschutzgebiet, Ostsee, reetgedeckte Häuser, Zanderfilet. Und das klappte anfangs auch ganz gut. Die Räder standen bereit. Und wir radelten stundenlang auf teils sandigen teils fichtennadelfesten Wegen durch den Wald. Keinen gewöhnlichen Wald: Man hat ihn einfach wachsen lassen, nicht mehr eingegriffen, kein Totholz entfernt, nichts gepflanzt, nichts geerntet. Eine Art Urwald ist das, mit lichten Stellen, umgefallenen Baumriesen, Stockausschlägen, großen Buchenbeständen. Und mit einem Mal stehen wir vor einem Schild mit der Aufschrift: "Altes Meeresufer" - mitten im Wald. Hier also brandeten einmal Ostseewellen an den Strand. Der Altdarß hört auf. Der Neudarß beginnt - und er weitet sich ständig auch heute weiter aus. Eine östliche Strömung landet hier Sinkstoffe an, die sich nach und nach verfestigen. So ähnlich wie an den Nehrungen.

Bis wir schließlich doch Darßer Ort erreichten, einen jetzt restaurierten und funktionierenden Leuchtturm, der, wenn man ihn von weitem sieht, im Meer zu stehen scheint, eben am Rand dieses noch äußerst flachen jungen Geländes. Bis 1990 war das alles Sperrgebiet, Erholungsgebiet für Funktionäre des "Ministeriums für nationale Verteidigung der DDR".

Die Bungalows sind inzwischen längst wieder abgebaut, das Gebiet beginnt sich zu renaturalisieren.

Als wir abends im Fischrestaurant Zanderfilet bestellt hatten, setzte sich ein Ehepaar fortgeschrittnen Alters zu uns. Wir kamen ins Gespräch. Früher sei hier alles viel schöner gewesen, jetzt leider total kommerzialisiert. Und Sperrgebiete habe es am Darßer Ort überhaupt nicht gegeben. Da ahnten wir, daß dieses biedere Paar wohl selbst dort oben Erholung gefunden hatte als Kader, als Angehörige des besagten Ministeriums in der "guten alten DDR."

Aber da waren sie wieder, die alten Zeiten. Und Tante Ilse forderte ihren Tribut. Also fuhren wir doch an einem der nächsten Tage nach Prerow, mit dem Rad, versteht sich. Unterwegs die vielen schönen reetgedeckten Häuser, die idyllischen Ausblicke auf den Bodden, das flache Land, den beständigen Wind. Eine Frau, auch mit dem Rad unterwegs, rief begeistert aus: "Diese Schönheit ist ja bald schon unverschämt." Wie Recht sie hatte! Und dann Prerow, das Ostseebad. Hierhin hatte es Tante Ilse nach dem Krieg verschlagen. Aus Gerdauen war sie im Dezember 45 mit meiner Großmutter ausgewiesen worden, in einem Güterzug über die Oder gekommen. Die Großmutter war unterwegs gestorben, einfach neben ihr erfroren. Man hat sie beim nächsten Halt aus dem Zug geworfen. Das Einzige, was von ihr blieb, war die Familienbibel, die ich von Tante Ilse geerbt habe, aus der heute noch am Heiligen Abend jedes Mal in unserer Familie die Weihnachtsgeschichte vorgelesen wird.

Hier nach Prerow war sie gekommen, hier hat sie gelebt, hier war sie für gewöhnlich auch gegen Mittag erst aufgestanden, nachdem sie ihre Briefe in einem großen Teller im Bett sitzend geschrieben hatte. Und hier mußte auch noch ihr Grabstein zu finden sein.

Denn mit dem Grabstein hatte es seine besondere Bewandtnis. Wann sie genau gestorben war, wußte ich nicht. Aber daß sie, als sie zum Sterben kam, einen diesbezüglichen besonderen Wunsch hatte, der ihr auch erfüllt wurde, wußte ich genau. Sie hatte nämlich ihre Schwester, meine Mutter, gebeten, ihr Gold zu beschaffen, um damit die Inschrift auf ihrem Grabstein zu gestalten - für DDR-Verhältnisse schier undenkbar: Goldschmuck beispielsweise bekam man, wenn überhaupt, in der DDR nur wiederum gegen Gold, also, wenn man aus anderem Schmuck oder Ähnlichem die gleiche Menge zur Verfügung stellen konnte. Aber Tante Ilse bekam ihr Gold von ihrer Schwester aus dem Westen - auf welchem Weg, weiß ich nicht.

Wahrscheinlich über einen Besuch in Prerow. Ich war dort noch nie gewesen.

Aber jetzt wollte ich wissen, wo sie gewohnt hat. Ihre Adresse las ich auf einem alten Brief: Strandstraße 9. Ob der Grabstein noch zu finden sein würde?

Tatsächlich fanden wir das Haus und auch das andere in der Waldstraße, in dem sie öfters kleine Konzerte gegeben hatte, zuletzt, als ihre Hände rheumatisch immer mehr verkrampften, wohl nur noch mit den Zeigefingern, aber bis zuletzt voller Hingabe, wie meine Mutter immer erzählte.

Und wir fanden den Grabstein, in dem großenteils aufgelassenen Friedhof um die alte Seemannskirche herum, die goldene Inschrift, die bezeichnenden Sätze, eben ihre Botschaft, und ihr Geburtsdatum. Das Todesdatum fehlt, das hatte sie natürlich nicht mehr in Gold schreiben lassen können.

In geliebter Erde / ruht in Gott... und unter Namen und Geburtsdatum:

Ich habe nun überwunden.

Das mit der geliebten Erde hat mich beruhigt. Offensichtlich hat sie hier gern gelebt, in diesem Kurort mit ein wenig Weltläufigkeit vielleicht, mit Gästen, die ihr zugehört haben, die sie unterhalten durfte, denen sie sich mitteilen konnte. Und daß sie überwunden hat, daß sie ihr Erdendasein wohl doch auch als Last empfunden hat, kann ich ungefähr verstehen.

So ist sie denn gewissermaßen für mich, ihren Neffen, nicht gestorben. Vielleicht wollte sie das ja auch so, vielleicht hoffte sie darauf, daß später, viele Jahre nach ihrem Tod, es jeder noch würde lesen können, vergoldet, kostbar, auf dem übrigens oben unsymmetrisch geschnittenen Granit, wer da überwunden hat, als späte Genugtuung für ein eigenwillig verquer zurückgehaltenes, nach innen gerichtetes Leben.


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren