29.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
16.06.07 / Kinder erstmals als Individuen gezeigt / Eine Ausstellung im Frankfurter Städel zeigt, wie Maler in ihrem Werk die Kindheit entdeckten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-07 vom 16. Juni 2007

Kinder erstmals als Individuen gezeigt
Eine Ausstellung im Frankfurter Städel zeigt, wie Maler in ihrem Werk die Kindheit entdeckten

Der Blick auf die Kindheit ist im Laufe der Geschichte immer wieder einem starken Wandel unterworfen gewesen. Heute ist es selbstverständlich, Kinder als Individuen zu betrachten, deren subjektive Bedürfnisse, Wünsche und Interessen wahrgenommen werden und die eigene Vorstellungen von ihrem Leben in der Gesellschaft haben. Aber nicht nur heute spielt die Frage nach der Position der Kinder und der Familie in der Gesellschaft eine Rolle. Diese Entwicklung nahm ihren Ausgang im

18. Jahrhundert. Das Städel Museum hat das kürzlich erworbene Gemälde "Die Kinder des Lord George Cavendish" von Thomas Lawrence zum Anlaß für die Ausstellung über die Entwicklung des Kinderporträts in England im 18. Jahrhundert und dessen Ausbreitung auf dem Kontinent genommen.

In den Bildnissen spiegelt sich die neue Sicht auf die Kindheit: Angeregt von den Schriften John Lockes und Jean-Jacques Rousseaus wurde dieser Lebensabschnitt nun als wichtige Phase der menschlichen Entwicklung wahrgenommen. In den Porträts treten die Kinder als selbständige Persönlichkeiten auf, deren lebenssprühende Natürlichkeit auch den modernen Betrachter verzaubert.

Der zeitliche Bogen der Ausstellung spannt sich von Anthonis van Dyck über Thomas Gainsborough, Joshua Reynolds und Henry Raeburn bis zu Friedrich von Amerling und Franz Xaver Winterhalter. Unter den gezeigten Werken finden sich Leihgaben aus namhaften Museen in Europa und in Übersee.

1693 veröffentlichte der englische Philosoph und Aufklärer John Locke in London seine wegweisende Schrift "Some Thoughts Concerning Education" (auf deutsch erschienen unter dem Titel "Herrn Johann Locks Unterricht von Erziehung der Kin-

der ...", Leipzig 1708), die sich an den englischen Landadel, aber auch an das englische Bürgertum richtete und ein neues Erziehungskonzept forderte: Statt die Kinder zu affektierten, das Verhalten der Erwachsenen imitierenden Wesen heranzuziehen, sollten ihre natürlichen Anlagen gefördert werden. Ziel war es, sie an eine einfache Lebensweise zu gewöhnen und zu einer moralisch aufrechten Gesinnung heranzubilden, so daß sie als Erwachsene für die Gesellschaft von großem Nutzen sein würden.

Die neue Wahrnehmung der spezifischen Welt des Kindes prägte neue Wertvorstellungen aus, denn Kinder wurden nun nicht nur als Garanten dynastischer Kontinuität, sondern als selbständige Charaktere gesehen, auf die sich die Fürsorge und der Stolz der Familie konzentrierten.

Die Sicht auf die Kindheit als wichtige Lebensphase, in der sich die Kinder zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickeln, prägte auch die Bildnismalerei. Die Frankfurter Ausstellung nimmt ihren Anfang mit den Porträts der "Maddalena Cattaneo" und den "Balbi-Kindern" von Anthonis van Dyck (1599-1641), die der Künstler in den 1620er Jahren während seines Aufenthalts in Italien malte. Trotz der repräsentativen Bildformen und der Attribute, die ihren herausgehobenen gesellschaftlichen Rang dokumentieren, zeigte van Dyck die Kinder als liebenswerte kindliche Geschöpfe. Die von ihm geprägte Porträtauffassung wurde von seinen Nachfolgern aufgegriffen und war auch noch im 18. Jahrhundert gültig. Doch als Thomas Gainsborough (1727-1788) und Joshua Reynolds (1723-1792) auf diese Vorbilder zurückgriffen, setzten sie neue Maßstäbe: In ihren Porträts, wie der von Reynolds gemalten "Miss Crewe", entwickeln die Dargestellten in der genau beobachteten Wiedergabe kindlicher Verhaltensweisen eine unbeschwerte Präsenz, die durch die lebendige, lockere Pinselführung noch unterstrichen wird.

Ein wichtiges Gestaltungsmoment bildet die Landschaft: Die barocke Staffagelandschaft, in der Säulen und Balustraden Hinweise auf Herrschaftsansprüche und Landbesitz geben, wird zunehmend durch die Darstellung ursprünglicher Natur ersetzt. Das macht der Vergleich der Bildnisse von John und Henry Truman-Villebois und den Marsham-Kindern, die Thomas Gainsborough um 1783 und 1787 malte, beispielhaft deutlich. Die kaum von Menschenhand geformte Landschaft entspricht dem ungezwungenen, natürlichen Verhalten der Kinder und bietet die ideale Umgebung für das kindliche Spiel, das damals als Ausdruck einer eigenständigen Aneignung der Lebenswelt gesehen wurde. Hier machte sich der Einfluß des französisch-schweizerischen Schriftstellers, Philosophen und Pädagogen Jean-Jacques Rousseau geltend, dessen 1762 erschienene pädagogische Abhandlung "Emile oder Von der Erziehung" auch in England breit rezipiert wurde. Rousseau ging davon aus, daß der Mensch mit guten Anlagen geboren wird. Um die schädlichen Einflüsse der von der Gesellschaft vertretenen Vorstellungen und Konventionen zu vermeiden, die den menschlichen Charakter deformieren, sollten Kinder deshalb fernab der Zivilisation auf dem Land, in der freien Natur großgezogen werden. Der Erzieher muß stets Vorbild sein und dafür sorgen, daß das Kind lernt, vernünftig über die Menschen, über die Dinge, über die Gesellschaft zu urteilen. In einer konzentrierten Auswahl von insgesamt 27 Exponaten zeigt die Ausstellung ausschließlich Bildnisse von Kindern, die sich ohne die Begleitung von Erwachsenen in der freien Landschaft aufhalten. Das im Mittelpunkt stehende Porträt der Kinder des Lord George Cavendish von Thomas Lawrence von 1790 ist ein charakteristisches Beispiel für diesen Bildnistypus, der die Erziehungsideale der Zeit veranschaulicht: Die wilde, unwegsame Natur fordert die älteren Brüder zum verantwortlichen Handeln heraus, denn fürsorglich halten sie ihre kleine Schwester an den Händen. Ihr fröhlicher Blick und die roten Wangen verdeutlichen, daß die Kinder gesund heranwachsen und voller Selbstvertrauen in die Welt blikken. Das Bildnis der Kinder des Sir Francis Ford, die einem Bettler ein Almosen geben, von William Beechey (1753-1839) vermittelt Mildtätigkeit als philanthropisches Erziehungsideal.

Das englische Kinderbildnis breitete sich bald in ganz Europa aus. Künstler wie Angelika Kauffmann (1741-1807), die nach England reisten, um dort die bewunderten Vorbilder im Original zu sehen, sorgten für eine weite Verbreitung des "modernen" Bildnistyps. In der Ausstellung ist Angelika Kauffmann mit einem Porträt der Henrietta Laura Pulteney vertreten. Bei den aufgeklärten Zeitgenossen auf dem Kontinent stieß die neuartige Auffassung des Kindes auf großes Interesse: Für den Hof in Weimar, ein Zentrum der Aufklärung in Deutschland, stellte Johann Friedrich August Tischbein (1750-1812) die Kinder des Herzogs Carl August in einer Parklandschaft dar. Diese erinnert an die Gärten in den Ilm-Auen, die der Fürst gemeinsam mit Goethe anlegen ließ. Das ungewöhnliche Bildnis eines "Laufenden Jungen" des dänischen Malers Jens Juel (1745-1802) ist gleichfalls von den neuen Grundsätzen der Erziehung geprägt, denn damals wurden zunehmend sportliche Aktivitäten als bedeutender Teil der Erziehung wahrgenommen. (pmst)

Die Ausstellung im Frankfurter Städel, Schaumainkai 63, ist dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr, mittwochs und donnerstags bis 21 Uhr geöffnet, Eintritt 10 / 8 Euro, bis 15. Juli. Vom 1. August bis 4. November 2007 ist die Ausstellung in der Dulwich Picture Gallery, London, zu sehen.

Foto: Begegnung mit einer anderen Welt: Junger Besucher im Städel


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren