25.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
23.06.07 / Leben unter Zwang / Zwangserkrankungen grenzen aus und machen den Alltag zur Hölle

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 25-07 vom 23. Juni 2007

Leben unter Zwang
Zwangserkrankungen grenzen aus und machen den Alltag zur Hölle
von Corinna Weinert

"Ist das Bügeleisen wirklich ausgeschaltet?", "Habe ich die Haustür richtig abgeschlossen?", "Brennt das Licht im Flur noch?" Solche nervenaufreibenden Gedanken quälen wohl jeden gelegentlich. Auslöser ist der Alltagsstreß, der unwichtigere Wahrnehmungen verschwimmen läßt und damit im Nachhinein das Gefühl der Unsicherheit hervorruft. Getrieben davon kehrt mancher dann tatsächlich in die Wohnung zurück, um zu schauen, ob wirklich alles in Ordnung ist.

Einigen Menschen reicht es dabei nicht aus, sich einmal zu vergewissern. Immer und immer wieder kehren sie um, kontrollieren die Elektrogeräte oder überprüfen das Türschloß. Solche Menschen leiden unter einer psychischen Störung, die man Zwangsstörung oder Zwangserkrankung nennt. Die Betroffenen unterliegen dabei einem inneren Drang, der ihnen das Leben zur Hölle macht, sie zur Geisel ihrer selbst werden läßt. Das Fatale daran ist, daß die Betroffenen die von ihnen selbst als belastend empfundenen Gedanken und Handlungen umsetzen müssen, sich nicht darüber hinwegsetzen können; gegen den inneren Drang sind sie machtlos. Menschen mit einer Zwangserkrankung wissen sehr genau, daß ihre Gedanken und Handlungen völlig unsinnig sind, aber folgen sie ihren Zwängen nicht, ergreift sie Panik.

Schätzungsweise 1,5 Millionen Deutsche sind davon betroffen. Sie haben Kontrollzwänge, Ordnungszwänge, Putzzwänge, Waschzwänge oder Zählzwänge. Begleitet werden die Zwänge häufig von extremer Anspannung, Herzklopfen, Nervosität, Schwitzen, Zittern. Eine Zwangserkrankung preßt das Leben der Betroffenen in ein enges Korsett. Täglich stundenlang duschen, putzen, Türschlösser kontrollieren kostet viel Zeit und Energie. Beruf und Privatleben bleiben dabei auf der Strecke. Da keine Zeit mehr für andere Dinge bleibt, geraten die Betroffenen immer weiter in die Isolation und haben so noch mehr Zeit, ihrem Ritual nachzugeben. Die Menschen leben praktisch in der Endlosschleife. Hinzu kommt das Schamgefühl. Die Betroffenen versuchen, ihre Störung möglichst lange zu verheimlichen, da ihnen die Absurdität ihres Verhaltenes ja durchaus bewußt ist. Auch negative Gefühle wie Niedergeschlagenheit und Depressionen werden übertüncht. Die Zwangsstörung gehört zu den psychischen Krankheiten mit dem höchsten Leidensdruck. Ganz grob unterteilt man die Zwangsstörung in Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Zwangsgedanken sind Ideen oder Vorstellungen, bei denen es häufig um Schuld oder Verunreinigung geht. Die Betroffenen haben oftmals eine übertriebene Angst vor Bakterien, Schmutz, Strahlen oder Umweltgiften, oder sie befürchten, jemandem zu schaden oder ein Unheil anzurichten.

Zwangshandlungen sind Stereotypien, die ständig wiederholt werden müssen. Besonders verbreitet sind Reinigungs- und Waschzwänge. Die Betroffenen putzen stundenlang ihre Wohnung, duschen mehrmals täglich oder waschen sich immer und immer wieder die Hände. Nahezu ebenso häufig leiden Menschen unter Kontrollzwängen. Die Betroffenen überprüfen nach bestimmten Regeln elektrische Gegenstände, Licht, Wasseranschlüsse, Fenster, Türen oder Schlösser. Ordnungszwänge veranlassen die Betroffenen, die Stifte auf dem Schreibtisch akkurat auszurichten oder die Wäsche im Schrank auf eine spezielle Weise zu falten und zu stapeln. Besonders irritierend für die Umwelt sind Wiederholungszwänge, die die Betroffenen dazu bringen, mehrfach und auf bestimmte Weise durch Türen zu gehen oder mehrfach wieder vom Stuhl aufzustehen, bis sie schließlich Ruhe finden. Die Erkrankung behindert den Alltag erheblich, sie kann so stark ausgeprägt sein, daß eine normale Lebensführung unmöglich wird.

Die Ursachen der Erkrankung sind noch nicht genau bekannt. Vielfach wirken einschneidende Lebenserfahrungen oder Krisensituationen - beispielsweise der Tod eines geliebten Menschen - wie ein Katalysator für den Ausbruch der Erkrankung.

In der Regel beginnt die Erkrankung im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter, meist langsam zunehmend und sich dann stetig verschlimmernd. Frauen scheinen genauso häufig betroffen zu sein wie Männer, wobei Männer eher zu Kontrollzwängen neigen, während Frauen häufiger Waschzwängen unterliegen.

Ohne wirksame Therapie verläuft die Erkrankung zu zwei Dritteln chronisch, zu einem Drittel schubweise mit akuten Verschlechterungen unter besonderen Belastungen.

Behandeln läßt sich die Krankheit mittlerweile gut. Um die Zwänge und den hiermit verbundenen seelischen Druck zu reduzieren, werden insbesondere in der akuten Phase Medikamente aus der Gruppe der sogenannten Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) eingesetzt. "Die Wirkung hält aber meist nur so lange, wie die Mittel eingenommen werden", erklärt Professor Iver Hand vom Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg. Nach dem Absetzen kommt es in bis zu 90 Prozent zu Rückfällen.

Mit der Verhaltenstherapie steht mittlerweile ein effektives psychotherapeutisches Behandlungsverfahren zur Verfügung. Hierbei wird das Verfahren der Reizexposition mit Reaktionsverhinderung eingesetzt. Die Patienten müssen sich dabei den Faktoren beziehungsweise Situationen aussetzen, die normalerweise Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen bei ihnen auslösen, und das unter Bedingungen, die sie daran hindern, mit der Durchführung der entsprechenden Zwangshandlung zu reagieren. Die Patienten müssen unter Aufsicht beispielsweise akzeptieren, nur noch in sehr eingeschränktem Maß ihre Hände waschen zu dürfen, oder sie müssen ihre Wohnung verlassen, ohne gleich darauf wieder umzukehren.

Die Folge der Konfrontation mit dem Schrecken ist, daß die Angstkurve zunächst steil ansteigt. Irgendwann nimmt die Angst dann ab, und die Patienten merken, daß sie ihre Angst auch ohne Ritual bewältigen können.

Zwangsgedanken ihrer Macht zu berauben, ist noch schwieriger. Hier werden die Patienten aufgefordert, den Gedanken zu Ende zu denken, ihn vielleicht sogar aufzuschreiben, statt ihn sich krampfhaft zu verbieten. "Man kann Gedanken nicht wegbefehlen, sie müssen verblassen", sagt Edgar Geissner von der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik Roseneck am Chiemsee. Ziel ist es, die Gedanken nach und nach umzubewerten - sie von ihrem "Streng verboten"-Etikett zu befreien und ihnen ihren wirklichen Stellenwert zu geben: eine Idee, die kommt und wieder vergeht. "Von der Verhaltenstherapie profitieren 50 bis 70 Prozent der Patienten längerfristig", erklärt Hand. Eine Therapie dauert jedoch mehrere Wochen, teilweise wird sie sogar stationär durchgeführt. "Viele Patienten bekommen ihr Berufs- und Familienleben wieder geregelt", so Hand. Eine vollständige Heilung ist aber nicht zu erwarten.

Foto: Die Bluse schon zum fünften Mal gebügelt: Wenn der Zwang das Leben bestimmt.


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren