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30.06.07 / "Praktisch ein Gefängnis" / Die Hamas nutzt den seelischen Ausnahmezustand der Bewohner Gazas aus

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 26-07 vom 30. Juni 2007

"Praktisch ein Gefängnis"
Die Hamas nutzt den seelischen Ausnahmezustand der Bewohner Gazas aus
von R. G. Kerschhofer

Auf die Lage in den Palästinensergebieten angesprochen, meinte der israelische Publizist Tom Segev kürzlich bei einem Vortrag in Zürich, der Gaza-Streifen sei "praktisch ein großes Gefängnis". Tatsächlich ist das Gebiet fast hermetisch abgeriegelt: Im Norden, im Osten und zur See von Israel, im Süden von Ägypten, und der ägyptische Grenzübergang bei Rafah wird laut "Abkommen" von israelischen Kameras überwacht. Flugplatz und Hafen von Gaza sind geschlossen, Fischerboote dürfen nicht aufs Meer.

Doch was Segev meint - und was aus politischer "Rücksichtnahme" oder auf Weisung der Medien-Eigentümer in der täglichen Berichterstattung kaum zum Ausdruck kommt - ist die psychische Extremsituation der Menschen. Und beim Gefängnisvergleich sollte man nicht an vergleichsweise komfortable mitteleuropäische Verhältnisse denken, sondern an brasilianische: Extrem überbelegt, drinnen Waffen und Kämpfe rivalisierender Gruppen, und die Wärter greifen nur ein, wenn eigene Leute attackiert oder als Geiseln genommen werden. Allerdings, im Gefängnis sitzen Verbrecher, und die Begleitumstände ihrer hinter Gittern zwangsläufig überhöhten Aggressivität sieht die Justiz quasi als Teil der Strafe an. Im Gaza-Streifen hingegen sitzt eine ganze Volksgruppe ein, deren ursprüngliche "Schuld" darin besteht, aus der Heimat vertrieben worden und seit 60 Jahren Spielball der Weltpolitik zu sein.

Zwar werden auch die 2,5 Millionen Menschen im Westjordanland durch eine völkerrechtswidrige Siedlungspolitik und Schikanen aller Art bedrängt, doch diese in "Bantustans" nach Apartheid-Vorbild Zusammengedrängten leben immerhin auf etwa 6000 Quadratkilometern, und die sozialen Strukturen blieben trotz des Zustroms der Vertriebenen 1948/49 intakt. Die Gaza-Bewohner hingegen sind größtenteils Vertriebene - in Summe 1,5 Millionen Menschen auf 360 Quadratkilometern.

Gaza-Stadt ist eine der ältesten Städte der Welt, und das Gebiet konnte seine Bewohner immer ernähren - durch Landwirtschaft, Küstenfischerei, Handwerk und Handel an der Schnittstelle von Verkehrswegen. Heute wäre das selbst unter günstigsten politischen Voraussetzungen unmöglich: Die Fläche reicht nicht für die Nahrungsproduktion, es gibt keine Rohstoffe und Energieträger, es herrscht Wassermangel, und für exportorientierte Industrie oder gar "High Tech" fehlen erst recht alle Voraussetzungen. Die einzigen Lösungen - Rücksiedlung ins Herkunftsgebiet oder Umsiedlung in andere Länder - scheitern am Widerstand der "Staatengemeinschaft", die lieber Almosen gibt und Dauerkrisen subventioniert. Doch selbst die lokal mögliche Wirtschaftsleistung wird heute schwerstens behindert. Israel kontrolliert alle Lieferungen, auch von Strom und Trinkwasser, und die Gaza-Bewohner haben ihre Ohnmacht ständig vor Augen.

Es gibt aber noch einen wesentlichen - und gänzlich ignorierten Aspekt: Die Drachensaat des Mißtrauens! Warum wohl können jene Morde, die in den Medien "gezielte Tötungen" heißen, meist punktgenau aus der Luft durchgeführt werden? Warum klappen Verschleppungen, die "Verhaftungen" heißen, selbst aus eng verbautem Gebiet heraus? Weil es Kollaborateure vor Ort gibt, die über Aufenthalte und Bewegungen mittels Handy Bescheid geben oder Fahrzeuge elektronisch markieren.

Not schafft eben Verräter. Außerdem hält man in israelischen Gefängnissen und Lagern über 10000 Palästinenser gefangen - da kann man auch manchen Familienangehörigen erpressen. Bruderzwist, Verrat und Gründung immer neuer Splittergruppen haben also in erheblichem Maß fremdgesteuerte Ursachen. Es gibt sogar Indizien dafür, daß Hamas-Leute von der Fatah ans Messer geliefert wurden. Und wer sich jetzt über Racheakte aufregt, sollte lieber fragen, wie man denn in Europa mit Kollaborateuren umgegangen ist.

Der Wahlsieg der Hamas Anfang 2006 war primär eine Reaktion auf die schamlose Korruption des Fatah-Regimes. Doch dazu kommt, daß die Hamas auch dem seelischen Ausnahmezustand der Menschen etwas entgegenzusetzen hat: die spirituelle Kraft der religiösen Überzeugung - von der man in Europa längst glaubt, sie durch einen Wildwuchs an weltlichen Vorschriften ersetzen zu können.

Es war absehbar, ja beabsichtigt, daß der westliche Finanz-Boykott gegen die Hamas-Regierung Konflikte auslösen würde: Die aus Fatah-Leuten bestehenden "Sicherheitskräfte" konnten vom neuen Innenminister nicht entlohnt werden und sie verweigertem ihm den Gehorsam. Die nunmehrige Eskalation, mit der auch die Koalitionsregierung zu Fall kam, wurde von Präsident Mahmud Abbas im März 2007 ausgelöst: Er machte ausgerechnet Mohammed Dahlan, einen der am meisten verhaßten Korruptionisten, zum "Sicherheitschef" in Gaza. Der konnte übrigens fliehen und ließ seine Leute im Stich.

Wie der Schriftsteller Uri Avnery kürzlich schrieb, werde "für jedes islamische Land ein lokaler Führer ausgesucht, der unter amerikanischem Schutz herrschen und amerikanischen Befehlen folgen soll". Mit Mißachtung des Wahlergebnisses 2006 - das so demokratisch zustande kam wie in kaum einem arabischen Land - mit dem Finanz-Boykott und mit dem jetzigen Geldregen und Waffenlieferungen für die Fatah haben die USA, Israel und im Schlepptau die EU allen Arabern verdeutlicht, was sie unter "Demokratie" verstehen. Daran werden auch die jetzt von Mahmud Abbas verbreiteten Hamas-Schauermärchen wenig ändern. Doch ob man die Hamas nun mag oder nicht, wer sie zerstört, wird es mit weitaus radikaleren Kräften zu tun kriegen.

Foto: Zerrt an den Nerven: Überall riegeln Zäune die Palästinensergebiete ab.

 

Zeitzeugen

Ariel Scharon - Sein Besuch auf dem Jerusalemer Tempelberg am 28. September 2000 gilt als Auslöser der "Zweiten Intifada", des neuerlichen Aufstandes der Palästinenser. Scharon war von 2001 bis 2006 israelischer Ministerpräsident. Seit einem Schlaganfall im Dezember 2005 liegt der 79jährige im Koma. Der Ex-General ist Sohn eines deutsch-polnischen Vaters und einer russischen Mutter, die 1921 nach Palästina ausgewandert waren.

Mahmud Abbas - Den 1935 in Galiläa geborenen Abbas wählten die Palästinenser Anfang 2005 mit 62,3 Prozent zu ihrem Präsidenten. Nach den Parlamentswahlen ein Jahr später mußte der Chef der Fatah und der PLO und Nachfolger Jassir Arafats im Bündnis mit der radikalislamischen Hamas regieren, welches nach Ausbruch der jüngsten Kämpfe im Gazastreifen zerbrochen ist. Abbas hat daraufhin eine Notstandsregierung eingesetzt.

Achmed Jassin - Seine Fistelstimme machte den 1936 in Askalon geborenen, seit einem Unfall 1952 an den Rollstuhl gefesselten und fast blinden Scheich Jassin weltbekannt. Jassin war Angehöriger der radikalen Muslimbrüder und gründete 1987 den bewaffneten Arm der Hamas. Gegenüber Israel war der Hamas-Führer absolut unversöhnlich, setzte unverdrossen auf den bewaffneten Kampf und galt als Intimfeind von PLO-Chef Jassir Arafat. In einer gezielten Aktion töteten ihn israelische Soldaten im März 2004.

Ismail Haniyya - Nach der Ermordung von Scheich Jassin und dessen Nachfolger stellte die Hamas keine Einzelperson mehr an ihre Spitze. Der seit 2006 amtierende palästinensische Ministerpräsident Haniyya gilt jedoch als einer von drei Führern. Seit seiner Absetzung durch Abbas ist der 1962 in Gaza geborene Haniyya de facto Herrscher über den Gazastreifen.

Ali Hassan Salameh - Als Anführer der Bande "Schwarzer September" brachte der 1940 geborene Salameh den rakikalen palästinensischen Terror nach Deutschland: Angehörige der Bande richteten 1972 in München ein Blutbad unter der israelischen Olympiamannschaft an. Die Morde waren der Auslöser für den Aufbau der Antiterroreinheit "GSG 9". Salameh wurde 1979 von Mossad-Agenten in Beirut getötet.


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