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30.06.07 / Wurzeln gezogen, der Schmerz bleibt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 26-07 vom 30. Juni 2007

"Moment mal!"
Wurzeln gezogen, der Schmerz bleibt
von Klaus Rainer Röhl

In diesen Sommertagen rollen wieder Hunderte von Bussen von Berlin aus nach Polen. Eine endlose Kette von Reisebussen, den ganzen Sommer über, bis tief in den Herbst hinein. Die meisten fahren in Richtung Danzig. Dort ist für viele die erste Station. Von da aus verteilen sie sich auf die unterschiedlichsten Einzelziele in Ostpreußen. Manche fahren sogar gleich durch nach Königsberg und an die Kurische Nehrung, in die russische Exklave im Nordosten Ostpreußens. Die Insassen der Busse sind Deutsche: Tausende und Abertausende von ehemaligen Bewohnern des Landes, Opas und Omas, die teilweise schon zum zehnten Mal die alte Heimat besuchen, manche haben ihre Kinder und Enkelkinder mitgebracht, um ihnen ihre frühere Heimat zu zeigen, die Ostseebäder, Danzig, die Masurischen Seen, die dunklen Wälder, die Steilküste, das Haff, die alten Häuser. "Da haben wir gewohnt. Kuckt ma, wie schön! Einmalig, das kommt nie wieder." Die Enkelkinder, schon in früher Jugend viel herumgekommen von Gran Canaria bis Rhodos, finden die Ostsee oder den Bauernhof in Masuren "auch ganz nett", besonders weil die Leute so freundlich und kinderlieb sind. Und das sind alle polnischen Gastgeber, von der Bauersfrau auf dem Ponyhof bis zur Bardame im Hotel Neptun in Gletkau bei Danzig.

Herzlich. Es gibt kein anderes Wort dafür. Das war schon vor der Wende so, als Polen noch kommunistisch war und der Ober und die Barfrau oder die Bernsteinverkäufer sich über jede D-Mark als Trinkgeld freute, kostbare Devisen. Die Herzlichkeit ist geblieben. Da sie jetzt selber zum Westen gehören, sehen sie mitleidig auf die armen Schlucker aus der Ukraine oder Rußland herab, die nun schon längst nach Polen als Gastarbeiter kommen. Aber die Deutschen, besonders die Vertriebenen, sind immer noch die besten Kunden, trotz gelegentlicher Einmal-Touristen aus dem westlichen Ausland, ja sogar aus den USA, die "very nice" sagen und schon in Gedanken beim nächsten Reiseziel sind.

Von den Jüngeren sprechen auch viele Deutsch. Mit köl'schem oder bayrischem Akzent. Denn fast alle waren sie schon mal in Deutschland oder haben da gearbeitet, nicht nur bei der Spargelernte oder bei der Weinlese, die meisten auf dem Bau, die Frauen haben im Haushalt gearbeitet oder als Kinderpflegerin. Obwohl jetzt weniger Polen nach Deutschland kommen, arbeiten zur Zeit immer noch 1,7 Millionen in der Bundesrepublik. Viele gehen wieder zurück in ihr Land und finden dort eine Arbeit, wo es jetzt durch die EU-Mitgliedschaft immer besser läuft mit der Wirtschaft und mit den Arbeitsplätzen. Die deutschen Spargelbauern waren in diesem Jahr ziemlich aufgeschmissen ohne die Polen. Sie versuchten es mit Rumänen, die seien immer noch besser als deutsche Hartz-IV-Empfänger, aber zufrieden waren sie nicht mit den Spargelstechern, sie schwärmen heute noch von den polnischen Arbeitern. Alle in Deutschland arbeitenden Polen gelten als fleißig und zuverlässig. Noch nie in ihrer Geschichte ging es den Polen besser als heute. Über sechs Prozent wird in diesem Jahr das Wachstum ihrer Wirtschaft betragen. Mit Unterstützung der EU. Bis 2013 wird das Land ungefähr 67 Milliarden Euro aus Brüssel erhalten, viel davon aus Deutschland.

Dennoch soll es plötzlich eine Krise in den deutsch-polnischen Beziehungen geben. Haß und Vorurteile gegen Deutschland und die Deutschen werden schon seit Jahren geschürt. Aber was war in die Zwillinge Kaczynski gefahren, die heute Polen als Premier und Präsident regieren?

Wer sind Lech und Jaroslaw Kaczynski? Zwei ehemalige Kinderstars, die in den 60er Jahren als Heulbojen das polnische Publikum begeisterten wie bei uns der legendäre Heintje, ("Heitschibumbeitschi, bum bum"), später Mitstreiter von Lech Walesas Bewegung "Solidarnosc" wurden und schließlich die seltsame Partei "Recht und Gerechtigkeit" gründeten und sich zur Doppelspitze wählen ließen. Lech, der Präsident, und Jaroslaw, der Ministerpräsident. Für ihre Partei gibt es viele Feinde Polens, die man dringend bekämpfen muß: Homosexuelle, Kommunisten, liberale Journalisten und andere Kritiker der polnischen Gesellschaft. Vor allem aber drohen Gefahren von außen: "Gefahren? Das sind unsere Nachbarn, Deutschland und Rußland" , sagte Lech, der Präsident, 2005 in einer Fernsehdiskussion.

Besonders den Nachbarn im Westen haben die Zwillinge im Visier. Doch mehr als die CDU-Abgeordnete Erika Steinbach und den von ihr geführten Bund der Vertriebenen (BdV) können die Propagandisten kaum ins Feld führen. Aber gerade der BdV hat bereits 1950 (!) in seiner "Charta der Vertriebenen", lange vor Willy Brandts theatralischem Kniefall in Warschau, feierlich auf jede Gewalt verzichtet und Polen und Tschechen die Hand zur Versöhnung gereicht. Dieser Gewaltverzicht ist nie mehr von den Vertriebenen widerrufen worden, und die Versöhnung wird von Deutschen und Polen überall tatkräftig ausgebaut, in Städte-Partnerschaften, gemeinsamen Kongressen, Festwochen und Begegnungen. So klingen die neuen Vorwürfe der polnischen Propaganda recht hergeholt, und das wissen auch die Propagandisten der Gerechtigkeitspartei. Aber der BdV und seine Präsidentin

Erika Steinbach betreiben schon seit vielen Jahren ein Projekt, das trotz vielfacher Verwässerung, Ausweitung und Anpassung an Forderungen seiner Gegner von der polnischen Seite jetzt als polenfeindlich angeprangert wird: das "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin, dessen Eröffnung die Kanzlerin ihrem Parteimitglied Erika Steinbach fest zugesagt hat. Das Zentrum soll die Geschichte der Vertreibung der Deutschen aus den Ostprovinzen (einem Drittel des Landes) - und auch andere Vertreibungen in diesem Jahrhundert dokumentieren, um damit die ethnische Vertreibung ein für alle Mal als Kriegsverbrechen zu ächten.

Das genügte in Polen, Erika Steinbach in SS-Uniform auf die Titelseite eines großen Magazins zu stellen und sie als "böse" zu verteufeln. Die künstlich angefachte Deutschfeindlichkeit im Land kam den Zwillingen Kaczynski, Premierminister und Präsident gerade recht. Sie wollten, nachdem das Land mit kräftiger deutscher Hilfe in die EU aufgenommen und dann jahrelang von Brüssel förmlich hochgepäppelt worden war, plötzlich in der EU mehr Einfluß und Stimmrechte ertrotzen, als ihnen nach der Einwohnerzahl ihres Landes (38,2 Millionen) zusteht. Das Stimmrecht sollte nicht nach der Einwohnerzahl, sondern nach der "Quadratwurzel" daraus berechnet werden. Damit hätten sie denn fast so viele Stimmen gehabt wie das wesentlich bevölkerungsreichere Deutschland (82,4 Millionen Einwohner). Andernfalls wollten sie den weiteren Reformprozeß in der EU durch ein (zur Zeit noch mögliches) Veto platzen lassen. Quadratwurzel oder Tod lautete allen Ernstes ihre Devise, die von ihrer Partei für "Recht und Gerechtigkeit" propagiert wurde. 43 Prozent der Polen unterstützten, nachdem man sie lange genug im staatlichen Fernsehen und in den nationalistischen Zeitungen und Magazinen bearbeitet hatte, den Unfug mit der Quadratwurzel. In der Fernseh-Runde von Maybritt Illner am Tag vor dem Treffen in Brüssel sagte ein Vertreter Polens auf die Vorhaltung, die Kaczynski-Partei regiere zusammen mit einer extremen Splitterpartei, die nicht nur strikt gegen Homosexuelle sei, sondern auch offen antisemitisch, dafür hätte die CDU Frau Steinbach. Ein übles Wort, dem der anwesende Bundesinnenminister Schäuble auch sofort widersprach.

Quadratwurzel oder Tod! Das war letzte Woche. Nun ist die Quadratwurzel tot, und die Brüder Kaczynski sind nicht in die Weichsel gesprungen. Daß eine Weiterentwicklung der Stimmrechtsreform in der EU bis zum Jahre 2010 hinausgeschoben werden mußte, werden sie in Polen noch als Sieg verkaufen, bevor sie, wie erwartet, wegen des Krachs mit den Radikalen in der Koalition ihre Regierungszeit vorzeitig beenden. Der Aufschub bis 2010 war ein Zugeständnis von Angela Merkel, die in jenem Jahr auch nicht mehr Kanzlerin von Deutschland sein muß. Eine "Krönung ihrer Ratspräsidentschaft" war der nächtlich ausgehandelte Kompromiß jedenfalls nicht.

War das Ganze nur ein Affentheater, ein Scheingefecht, über das Deutsche und Polen bald wieder zur Tagesordnung übergehen werden? Die Busse fahren weiter nach Danzig und Ostpreußen. Die Bernstein- und Andenkenverkäufer versehen weiter ihre Stände mit deutschen Schildern. Die allerschönsten Polenkinder verkaufen weiter Beck's Bier aus Deutschland, und die Pensionswirte in Masuren rüsten sich mit Herzlichkeit für die Sommergäste. 35 Ortsgruppen des BdV haben Partnerschaftsverträge mit polnischen Städten. Die Kaczynskis forderten die Bürgermeister auf, sie zu kündigen. 34 Orte blieben bei der bewährten Partnerschaft mit den Vertriebenen.

Nach dem Ende der Quadratwurzel-Affäre ist der Zeitpunkt für eine Verwirklichung des "Zentrum gegen Vertreibungen" gekommen. Frau Steinbachs politisches Ansehen und Angela Merkels Glaubwürdigkeit stehen und fallen mit dem Dokumentationszentrum. Jetzt muß es kommen. Nicht erst vor den Wahlen von 2009. Solange müssen wir, die 80- und 90jährigen Vertriebenen, noch ausharren und die Kanzlerin immer wieder an ihr Versprechen erinnern. Am liebsten täglich.

Foto: Da fehlten Merkel manchmal die Worte: Die Bundeskanzlerin und Polens Staatschef Kaczynski


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