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21.07.07 / Wodka oder Leben? / Alkoholismus verstärkt die demographische Katastrophe in Russland

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-07 vom 21. Juli 2007

Wodka oder Leben?
Alkoholismus verstärkt die demographische Katastrophe in Russland
von Wolf Oschlies

Victor Hehn (1813-1890), ein deutscher Kulturhistoriker aus Dorpat, war nach 1855 ein paar Jahre Bibliothekar in St. Petersburg und hat seine Erlebnisse unter Russen später in einem deftig-realistischen Tagebuch veröffentlicht. Darin heißt es:  "Der Suff decimirt jetzt (im Jahre 1864) das russische Volk. Dies Laster geht über alle Begriffe. Alles säuft und säuft sich zu Tode."

So sah es vor rund anderthalb Jahrhunderten aus und war, verglichen mit heutigen Zuständen, gar nicht einmal so schlimm. Natürlich "saufen" Russen seit Urzeiten, weswegen bereits im frühen 10. Jahrhundert der Heilige Wladimir den Islam als Religion verwarf, mit der sprichwörtlichen Begründung, daß "v Rossii ljudi veselye od piti" (in Rußland die Menschen vom Trinken fröhlich werden). Aber sie tranken verhalten: Rund drei Liter reinen Alkohols pro Kopf und Jahr im späten 19. Jahrhundert, 4,7 Liter 1914, zehn Liter 1985, danach ein Rückgang auf fünf Liter, bewirkt durch die Prohibition ("trockenes Gesetz") unter Michail Gorbatschow. Dann folgte ein raketenartiger Anstieg, der 2001 erstmalig die "Rekordgrenze" von 15 Litern überstieg und weiter anhält - mit verheerenden Folgen für die Gesundheit und Bevölkerungsentwicklung.

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist ein Konsum von (statistisch) acht Litern reinen Alkohols pro Kopf und Jahr die "gefährliche Grenze", oberhalb derer eine Gesamtbevölkerung in tödliche Gefahr gerät. Die ist seit sechs Jahren russische Normalität, was niemanden erschreckt: "Das Leben gilt in Rußland wenig", klagte unlängst Sergej Sacharow vom Demographischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften, "die Leute machen sich keine Gedanken, die Staatsführung auch nicht". Alarmiert sind allein die Demographen: Rußland zählt gegenwärtig 143 Millionen Einwohner, verliert Jahr um Jahr 730000 davon, wird 2050 nur noch 113 Millionen Einwohner haben. 

Rußland hat eine der höchsten Sterblichkeits- und niedrigsten Geburtenraten der Welt. Warum das so ist, hat der Mathematiker Podlasow vor Jahren auf originelle Weise vorgerechnet: "Im hypothetischen Fall eines Null-Konsums von Alkohol und einer Eliminierung der alkoholbedingten Sterblichkeit läge die Lebenserwartung russischer Männer bei 74,2 Jahren, die der Frauen bei 78,4". Aber dieser "Fall" ist Fiktion, denn (so Präsident Putin im Frühjahr 2007) "eines der Hauptübel, das den Russen ein langes und glückliches Leben verwehrt, ist der Alkoholismus". Der drückte die allgemeine Lebenserwartung auf 61 Jahre, zwei Jahre weniger als der Weltdurchschnitt. Besonders kurz, nämlich weniger als 58 Jahre, währt das Leben der Männer, "die im Durchschnitt drei Flaschen Wodka pro Tag trinken".  Nirgends in Europa sind harte Getränke so preisgünstig wie in Rußland - nirgendwo klaffen die statistischen Kurven von ansteigendem Alkoholismus und rückläufiger Lebenserwartung so deutlich auseinander.

"Russkij krest" (russisches Kreuz) nennen Wissenschaft und Publizistik dieses in Bildstatistiken verzeichnete Auseinanderklaffen, das zwar schon 1980 und 1990 beobachtet wurde, seit 2000 aber unumkehrbar ist.

Gennadij Onischtschenko, Chef des staatlichen Sanitätsdienstes, ist von der Unmöglichkeit einer "Ausmerzung der Trunksucht" überzeugt, traut auch den offiziellen Statistiken nicht über den Weg: Offiziell waren Ende 2006 2369000 Alkoholiker "registriert", pro 100000 Teenager unter 14 Jahren finden sich 17 Alkoholiker.

Der Moskauer Psychiater Aleksandr Nemzow hat die Natur des "russischen Kreuzes" erforscht: Alkoholbedingt sind pro Jahr 72 Prozent aller Morde, 68 Prozent der Todesfälle durch Zirrhosen, 53 Prozent der tödlichen Unglücksfälle, 42 Prozent der Selbstmorde. Hinzu kommen indirekte Folgen wie Produktionsausfälle, Transportschäden, Invaliditäten, Krankenstand, Vergiftungen, Heilungskosten, zerbrochene Familien und vieles mehr, was sich nach Berechnungen von Ljudmila Rshanizyna, Ökonomin an der Akademie, pro Jahr auf einen Gesamtverlust von 500 Milliarden Rubel summiert (14,3 Milliarden Euro). Das wären drei Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung rechnet mit 45 Prozent und erläutert, daß ein "trockenes" Rußland im Jahre 2025 ein BIP von 25000 Dollar pro Kopf erreichen könnte, dank seiner "Trunksucht" aber nur bei 14000 Dollar landen wird.

"Wir haben erniedrigende, bittere Lektionen hinter uns", klagte im April 2007 die Tageszeitung "Iswestija", "einen betrunkenen Präsidenten, betrunkenen Verteidigungsminister, betrunkene Polizisten, betrunkene Offiziere mit Waffen in der Hand", aber der Lerneffekt blieb aus. Am 7. Juni 1992 hob Boris Jelzin, eben der "betrunkene Präsident", das staatliche Wodka-Monopol auf, wodurch die Preise fielen und der Konsum stieg. Mit 36 Prozent liegt Wodka in den aktuellen Alkoholpräferenzen der Russen knapp hinter Bier (37 Prozent) und deutlich vor Wein (29 Prozent). Im statistischen Durchschnitt trinkt jeder Einwohner Rußlands 78 Flaschen Wodka pro Jahr.

Foto: Junge Menschen in Königsberg / Kaliningrad: Man trifft sich gern mal zum Wodka-Trinken im Park.


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