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11.08.07 / Fixe Denker können einsam sein / Das Gefühl, mit seinem Talent allein zu sein, kann den Kontakt zu Gleichaltrigen erschweren

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 32-07 vom 11. August 2007

Fixe Denker können einsam sein
Das Gefühl, mit seinem Talent allein zu sein, kann den Kontakt zu Gleichaltrigen erschweren
von Corinna Weinert

Aufmerksam sitzt Joshua vor seinem Aufgabenheft. Die kleine Zunge wandert unentwegt zwischen den Mundwinkeln hin und her, bis die fehlenden Worte fertig in den Lükkentext eingetragen sind. Die Übungen sind eigentlich für das zweite Schuljahr konzipiert, doch Joshua löst sie fehlerfrei – und dabei ist der Knirps erst fünf. Joshua verfügt über geistige Fähigkeiten, mit denen er seinen Spielkameraden im Kindergarten weit voraus ist.

Das haben seine Eltern schon früh bemerkt und einen Test machen lassen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Es stellte sich heraus, daß der Junge intellektuell hochbegabt ist. Damit gehört Joshua zu den zwei Prozent der Bevölkerung, die einen Intelligenzquotienten (IQ) haben, der über 130 liegt – in Deutschland sind das rund 2,4 Millionen Menschen. „Die normale Intelligenz liegt im Bereich von 95 bis 100, ab 120 spricht man von überdurchschnittlicher Intelligenz, und ab 130 ist man intellektuell hochbegabt“, erklärt Karsten Otto vom Verein „Hochbegabtenförderung e. V.“ in Bochum. Schon in den ersten Lebensjahren ist erkennbar, daß die betreffenden Menschen anders sind. Bei ihnen ist die Denkgeschwindigkeit und die Denkmöglichkeit wesentlich größer als üblich, durch ihre geistige Disposition sind sie in der Lage, auf wesentlich mehr Gebieten außergewöhnliche Leistungen zu bringen, als es bei Menschen mit einer Teilbegabung wie Ausnahmesportlern oder Musikgenies der Fall ist.

„Die Kinder fallen bereits dadurch auf, daß sie extrem aufmerksam und wach auf die Welt zugehen“, beschreibt Otto die ersten Anzeichen, „außerdem stellen sie viele Fragen und haben ein besonders gutes sprachliches Ausdrucksvermögen; der Wortschatz ist ungewöhnlich groß.“

Weitere Eigenschaften können beispielsweise ein herausragendes Gedächtnis, die Fähigkeit, komplexe Probleme schnell zu lösen, Dinge zu ordnen und Strukturen zu schaffen sein. Oftmals zeigen die Kinder auch ein frühes Interesse an Buchstaben und Zahlen verbunden mit dem Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen. „Als Faustregel gilt: Ab einem IQ von 130 sind Kinder eineinhalb bis zwei Jahre geistig weiter, als sie biologisch sind“, meint Otto.

Mit solchen Fähigkeiten ausgestattet zu sein kann zwar vieles im Leben leichter machen, aber auch Schwierigkeiten verursachen. Kinder wie Joshua, die ihrem Alter geistig um Jahre voraus sind, brauchen mehr Anregungen, die ihren Lern- und Wissensdrang befriedigen. Sie haben andere Interessen als Gleichaltrige und sind damit in der Regel allein. „Die Kinder stellen schon früh in ihrem Leben fest, daß sie mit ihren Interessen allein bleiben. Und diese Einsamkeit, das Gefühl: ,Mit mir ist irgend etwas anders‘, nehmen die Kinder mit in ihr späteres Leben“, sagt Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf.

Das kann dazu führen, daß die Kinder ihren Altersgenossen gegenüber reserviert bleiben, schwer Kontakt finden und zu Außenseitern werden. Ebenso ist es möglich, daß die Kinder aufgrund ihrer besonderen Wesens- und Wissensmerkmale in der Schule oder auch im Familien- und Freundeskreis auf Ablehnung stoßen, eventuell sogar ausgegrenzt werden. Hieraus folgt dann mitunter, daß sie Depressionen bekommen, psychische Störungen entwickeln oder sich zurück-ziehen. Zu solchen Auffälligkeiten gehört auch, daß Kinder, die in der Schule unterfordert werden, sich langweilen und deshalb ständig den Klassenkasper geben. Jungen und Mädchen reagieren auf die Mißachtung ihrer Bedürfnisse in unterschiedlicher Weise. Bei Jungen zeigt sich der Unmut über die Situation viel deutlicher, etwa durch aggressives oder störendes Verhalten. Mädchen fallen in der Schule weniger negativ auf, selbst wenn der Unterricht sie vielleicht genauso wenig erreicht, „aber das merkt keiner“, sagt Otto, „Mädchen gehen mit dem Anpassungsdruck einfach anders um.“ Oftmals flüchten Mädchen sich auch in Tagträume. „Man muß bei Mädchen doppelt genau hingucken, um festzustellen, daß sie hochbegabt sind.“

Die besonderen Fähigkeiten früh zu entdecken und zu fördern ist für die kleinen Schnelldenker somit enorm wichtig. Ohne ständige geistige Herausforderung langweilen sie sich – und werden im schlimmsten Fall zu Leistungsverweigerern, sogenannten „Underachievern“, die dann nicht selten in der Sonderschule landen oder ganz aus dem normalen Schulbetrieb rausfliegen.

„Um die Kinder ihren Fähigkeiten entsprechend unterstützen zu können, ist es wichtig, eine umfassende Diagnostik durchzuführen und genau herauszufinden, in welchen Bereichen die Stärken und die Schwächen liegen“, erklärt Schulte-Markwort.

Die individuellen geistigen Bedürfnisse lassen sich mit einem Intelligenzstrukturtest ermitteln. Hat man die herausgefunden, geht es darum, die Gebiete, in denen die Kinder besonders gut sind, anzureichern, und zwar so, daß sie noch weiter motiviert sind und Spaß haben. „Das bedeutet zum Beispiel, daß sie in den entsprechenden Schulfächern spezielle Aufgaben bekommen, die über den üblichen Lehrstoff hinausgehen“, so der Kinder- und Jugendpsychiater. Eine andere Strategie sei, die Kinder frühzeitig einzuschulen oder eine Klasse überspringen zu lassen. „Allerdings muß man dabei beachten, ob die Kinder dafür die sozialen Fähigkeiten haben und nicht darunter leiden, wenn sie in eine Klasse kommen, in der die meisten Kinder schon drei Jahre älter sind“, unterstreicht Schulte-Markwort.

Es läßt sich nicht verhindern, daß Kinder mit speziellen Fähigkeiten einen Sonderstatus haben, doch wenn sie zu ausgeprägten Außenseitern werden, brauchen sie Unterstützung. „Dann muß man ihnen helfen, sich besser zu integrieren. Hierzu gehört, auf Kontakte zu Gleichaltrigen zu achten und soziale Defizite ausgleichen, zum Beispiel durch ein spezielles Kompetenztraining“, so Schulte-Markwort. Somit kann die Isolation, in der sich viele der Kinder befinden, aufgehoben werden.


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