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01.09.07 / »Endlich zu Hause« / Im Bissegg bei Weinfelden im Kanton Thurgau wurde der Holzhof in Tilsit umbenannt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 35-07 vom 01. September 2007

»Endlich zu Hause«
Im Bissegg bei Weinfelden im Kanton Thurgau wurde der Holzhof in Tilsit umbenannt
von Manuel Ruoff

Noch vor wenigen Jahren waren auf dem Käsemarkt von Lebensmitteldesignern geschaffene Neuschöpfungen en vogue. Inzwischen gibt der Kunde jedoch lieber bewährten Käsesorten mit Tradition und Geschichte den Vorzug. Diese Ansicht hört man zumindest in der Sortenorganisation Tilsiter Switzerland GmbH. Bei letzterer handelt es sich um eine Schweizer Interessenorganisation an Produktion und Vertrieb des Tilsiter Käses beteiligter Betriebe und Organisationen. Das Stammkapital dieser GmbH mit Sitz in Weinfelden in Höhe von 360000 Schweizer Franken stammt je zu einem Drittel von den Milchproduzenten, den Fabrikanten und den Käsehändlern beziehungsweise Affineuren sowie deren Organisationen.

Damit der Tilsiter wieder aus Tilsit kommt, um dem „Tilsiter wieder eine Heimat zu geben“, wie es offiziell hieß, und das gefälligst an ihrem Produktionsort in der Schweiz, gründeten die geschäftstüchtigen Eidgenossen in ihrem schönen Land ein Tilsit. Die Wahl fiel auf den Betrieb der Familie Otto und Claudia Wartmann, den Holzhof. Schließlich ist der erste Schweizer Tilsiter auf eben diesem Holzhof in Bisseg bei Weinfelden, Kanton Thurgau, entstanden. Das war 1893. Der damalige Käser, Otto Wartmann, hatte den Tilsiter in Tilsit kennengelernt. Seither wird auf dem Holzhof Tilsiter hergestellt, mittlerweile bereits in der fünften Generation.

Um der Umbenennung des Holzhofes in Tilsit die nötige Glaubwürdigkeit und Tiefe zu geben, wurden zu dem Akt deutsche und russische Tilsiter eingeladen. Der Russe Jakow Rosenblum von der „Russischen Stadtgemeinschaft Tilsit in Sowjetsk“ folgte ebenso der Einladung wie der Deutsche Horst Mertineit von der Stadtgemeinschaft Tilsit in Kiel. Auch der Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen, Wilhelm v. Gottberg, folgte der Einladung. Diese seltene Gelegenheit, einmal in der Schweiz die Landsmannschaft und ihre Belange vorzustellen, ließ er sich nicht entgehen. Zu seiner eigenen Überraschung stieß er hier sogar auf eine Vertriebenenorganisation, zu der nun ein intensiverer Kontakt hergestellt werden soll.

Als Gründungstag für Tilsit / Thurgau wählten die Sortenorganisation Tilsiter Switzerland und die Familie Otto und Claudia Hartmann den schweizerischen Nationalfeiertag. An diesem Tag konnten sie voraussetzen, daß ihre Landsleute bereits in festlicher Stimmung waren, nicht erst in diese versetzt werden mußten. Zudem läßt sich dadurch der Gründungstag von Tilsit / Thurgau für Schweizer optimal merken, denn die Strategie der Schweizer ist langfristig. An jedem Schweizer Nationaltag soll zukünftig auch der Gründung von Tilsit / Thurgau gedacht werden, nach zehn, 15, 25 Jahren etc. sollen sogar Jubiläen gefeiert werden.

Petrus schien mitzuspielen. Der Gründungstag von Tilsit / Thurgau begann mit herrlichem Wetter, das sich hielt. In der Schweiz ist es seit eineinhalb Jahrzehnten Tradition, daß man am Nationalfeiertag auf dem Bauernhof bruncht, sprich eine deftige warme wie kalte Mahlzeit zu sich nimmt, die Frühstück wie Mittag ersetzt. Dieses Jahr wurden auf 420 Bauernhöfen rund 200000 Gäste empfangen. Einer dieser 420 landwirtschaftlichen Betriebe war der Holzhof, der 1200 Besucher bewirtete. In diesen Brunch war der Umbenennungsakt als Höhepunkt eingebettet. Um 10 Uhr ging es los. Als die Ehrengäste aus der Bundesrepublik Deutschland und der Russischen Föderation mit ihrem Kleinbus eintrafen, setzte als Willkommensgruß die Musik ein. Danach frühstückten Ehren- wie zahlende Gäste erst einmal gemeinsam im teilweise freigeräumten Stall, im Freien und im Festzelt. Natürlich kam Käseprodukten eine dominante Stellung zu, aber wer wollte, konnte auch Geschnetzeltes mit Bratkartoffeln oder Marmeladenbrote essen. Volksfeststimmung kam auf. Kinder konnten im Heu tollen, Tiere bewundern oder ebenso wie Erwachsene an einem Ratespiel teilnehmen, bei dem es galt, die Milch von Pferden, Ziegen, Schafen und Kühen nach einem Geschmackstest den entsprechenden Tieren zuzuordnen.

Angesichts dieser ausgelassenen Stimmung unter dem weißen Kreuz auf rotem Grund war es schon beeindruckend, mit welcher Selbstdisziplin Ruhe einkehrte, als um 12 Uhr auf der Bühne des Festzeltes mit dem Umbenennungsakt der ernste Teil der Feier begann. Nach einem musikalischen Auftakt mit der Musikgesellschaft Märstetten und dem Jodeldoppelquartett Sirnach begrüßte der Präsident der Sortenorganisation Tilsiter Switzerland die Gäste aus der Bundesrepublik, der Russischen Föderation und der Schweiz. Zusammen mit dem nach ihm auftretenden Schauspieler Kurt Schwarz stellte er die Geschichte des Tilsiters und die Idee, die hinter der Umbenennung steht, vor. Der Präsident des Schweizerischen Bauernverbandes, Nationalrat Hansjörg Walter, zitierte Gandhi mit der Feststellung, daß Heimat da sei, wo das Herz, und nicht dort, wo der Körper sei, um dann festzustellen, daß das Herz von Tilsit hier, auf dem Holzhof sei. Anschließend interviewte die Moderatorin Christa den Gastgeber Otto Hartmann und Otmar Schmid von der Standortgemeinde Bissegg. Hartmann erzählte von der Verknüpfung des Tilsiters mit der Geschichte seiner Familie und Schmid gab seiner Freude und Genugtuung darüber Ausdruck, daß Tilsit nun in seiner Gemeinde liege.

Sehr beeindruckend war die anschließende Rede des 91jährigen Kurt Streit, der wie kein anderer Festredner die Verbindung zwischen Ostpreußen und der Schweiz personifizierte. Der Großvater dieses Ostpreußen Schweizer Abstammung war 1887 wie nicht wenige seiner Landsleute aus der damals armen Schweiz in das damals reiche Tilsit – wie sich die Zeiten ändern – ausgewandert. Der Enkel wurde von der Roten Armee vertrieben und kehrte in die Heimat seiner Vorväter zurück. Es war faszinierend, wie der 91jährige die Schweizer in Schweizerisch begrüßte, um dann aus Höflichkeit gegenüber den Gästen aus dem Ausland ins Hochdeutsche zu wechseln, aber nicht in irgendein Hochdeutsch, sondern in ein solches, das die anwesenden Ostpreußen in dem Redner einen der ihren erkennen ließ. Doch neben dem Schicksal des Vortragenden wußte außer der Form auch der Inhalt des Vortrages zu fesseln. Streit verwies darauf, daß die Vertreibung der in Ostpreußen lebenden Schweizer viel zu unbekannt sei. Dabei ist die Vertreibung der Schweizer „Gastarbeiter“ in Ostpreußen, die häufig in der Milchwirtschaft beschäftigt waren, ein ebenso juristisch wie politisch wichtiges und interessantes Thema. Die Schweiz befand sich nicht im Kriegszustand mit der Sowjetunion und die Schweizer sind über jeden Vorwurf erhaben, in der Sowjetunion Kriegsverbrechen begangen zu haben.

Nachdem als erstes die Schweizer geredet hatten und dann als „Scharnier“ zwischen der Schweiz und Ostpreußen Kurt Streit wurde gemeinsam das Ostpreußenlied gesungen und die ostpreußischen Gäste kamen zu Wort. Nach Mertineit und von Gottberg sprach Rosenblum. Er begrüße die Festgesellschaft namens seiner heute in Tilsit lebenden Landsleute im allgemeinen und der Stadtgemeinschaft Tilsit in Tilsit im besonderen. Der Grundtenor seiner Rede war optimistisch. Er verwies darauf, daß mittlerweile auch in Tisit wieder von Tilsit gesprochen werde, dort versucht würde, der Stadt ihren Namen zurückzugeben, daß der Tilsiter Elch aus Königsbergs Tierpark zurückgekehrt sei, daß in beziehungsweise um Tilsit wieder Käse produziert werde, daß an der Königin-Luise-Brücke das Staatswappen aus der Sowjetzeit wieder durch ein Luisen-Medaillon ersetzt sei, und daß es offizielle russische Internetseiten gäbe, welche als Namensbestandteil „tilsit“ enthielten. Natürlich hatten die ostpreußischen Gäste auch Geschenke mitgebracht. Eine Tilsitflagge und ein bronzener Elch gehörten ebenso dazu wie ein Stadtplan vom heutigen Tilsit und eine Tüte voller Souvenirs. Die Schweizer bedankten sich und Fürer versprach, nach Tilsit zu kommen und dann auch etwas mitzubringen.

Nach ein paar passenden besinnlichen Worten zum Thema Heimat, mit gemessener Stimme vorgetragen vom Schauspieler Schwarz, erreichte der Festakt den Höhepunkt – die gemeinsame Enthüllung eines Schriftzuges mit dem Schriftzug Tilsit, wobei man wissen muß, daß die Ortsschilder in der Schweiz statt schwarzer Schrift auf gelbem Grund, weiße Schrift auf blauem haben. Kaum daß Tilsit / Thurgau gegründet war, wurden auch gleich zahlreiche Ehrengäste zu Ehrenbürgern ernannt – einschließlich feierlicher Urkunde. Anschließend wurde in einem Garten auf der dem Hof gegenüberliegenden Straßenseite die Gründungsurkunde von Karl Fürer, Otto Wartmann, Othmar Schmid, Hansjörg Walter, den Ständeräten Dr. Philipp Stähelin und Dr. Hermann Bürgi, der Nationalrätin Brigitte Häberli, Horst Mertineit, Wilhelm von Gottberg sowie Jakow Rosenblum unterzeichnet. Ihren Abschluß fanden die Umbenennungsfeierlichkeiten damit, daß man nach dem Gruppenfoto vor einem Plakat mit der Botschaft „Endlich zu Hause. Seit dem 1. August hat der Tilsiter wieder eine Heimat. Hier auf dem Holzhof“ gemeinsam das „Tilsit“-Ortsschild vor dem Hof am Straßenrand aufstellte.

Zukünftig sollte man also analog zu Königsberg in Preußen von Tilsit in Preußen sprechen, um Verwechslungen mit dem gleichnamigen Tilsit im Thurgau zu vermeiden. Doch Scherz beiseite. Es bleibt zu hoffen, daß es nicht bei dieser einmaligen Aktion bleibt, sondern sich daraus eine dauerhafte schweizerisch-ostpreußische Verbindung ergibt – wofür spricht, daß die Sortenorganisation Tilsiter Switzerland Mitglied der Stadtgemeinschaft Tilsit geworden ist –, und daß das schweizerisch Tilsit die Fahne des zur Zeit unter anderem Namen firmierenden ostpreußischen Tilsit hochhält.

Fotos: Enthüllung des Ortsschildes „Tilsit“: Christa Klein, Jakow Rosenblum, Horst Mertineit und Otto Wartmann (v.l.n.r.); Es ist vollbracht: Horst Mertineit (ganz links) und Wilhelm v. Gottberg (ganz rechts) mit dem Ehepaar Hartmann


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