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01.09.07 / Sandige Bucht / Verbundeneheit mit dem Fluß der Kindheit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 35-07 vom 01. September 2007

Sandige Bucht
Verbundeneheit mit dem Fluß der Kindheit
von H. Patzelt-Hennig

Als ich ein junges Mädchen war, gelangte ich nach über einem Dutzend Umzügen, Zwischenstationen und Zwangsaufenthalten in eine Stadt, die an einem Fluß liegt, der sich von einigen Uferbereichen her teilweise mit dem Strom meiner ostpreußischen Heimat, der Memel, vergleichen läßt. Er hat wie dieser manche schöne, sandige, von wispernden Weiden umstandene Bucht, von denen ich eine für mich erkor, wo ich in meiner Freizeit oft gern saß. Das war erholsam, erbaulich und ersprießlich. So empfand ich es. Und das gestand ich mir auch wieder und wieder ein. Doch war das in diesem Umfang immer nur so lange der Fall, bis mich jene Gedanken bedrängten, die mich zu einem Vergleich zwangen. Einem Vergleich zwischen diesem Strom und dem meiner Heimat, in dessen unmittelbarer Nähe ich geboren und aufgewachsen bin.

Die Bilder, die mir kamen, waren nicht zu verdrängen. Der Strom meiner Heimat war breiter. Tiefgründig, gebieterisch floß er dahin. In der wärmeren Jahreszeit trug er Flöße, geleitet von Flößern, deren Lieder uns so fremd waren wie ihre Sprache auch. Und im Winter deckte ihn bis zu vier Monate eine dicke Eisdecke. Beides waren Merkmale, die es hier nicht gibt. Und es gibt in diesem Fluß auch nicht die Quappen, die um die Weihnachtszeit in die Memel zum Laichen kamen. Teilweise armlange, sehr schmackhafte Fische, auf die niemand gern verzichtet hätte. Das waren einige Unterscheidungen. Viele aber kamen aus persönlichem Erleben noch dazu. Nirgends sonst beschleicht mich seit der Vertreibung und der späteren Ausweisung nach unserer Rückkehr in die Heimat das Heimweh so sehr wie an diesem Strom.

Das blieb so bis zu jenem Sommer, als ich in der kleinen von mir so gern aufgesuchten, abgeschiedenen Bucht nicht mehr alleine saß. Als ich mit dem Mann hier weilte, mit dem ich mein Leben verbringen sollte, da verdrängten die Gedanken an die Zukunft mehr und mehr die Bilder der Vergangenheit. Jetzt aber, nach einem halben Jahrhundert, da ich wieder allein die kleine Bucht aufsuche, sind sie erneut gegenwärtig, die Gedanken an den heimatlichen Strom. Ich sehe im Geiste die Flöße stromabwärts treiben, Frachtschiffe vorüberziehen, auf denen Wäschen flatterte und Kinder spielten, ich sehe einen Dampfer mit den vertrauten Namen anlegen und abfahren.

Die Visionen dehnen sich meistens aus. Sie erstrecken sich über gute und schlimme in der Heimat erlebte Zeiten. Und fast immer spielt die Memel dabei eine Rolle.


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