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01.09.07 / Wie eine Schutzmauer im Gehirn / Wenn Menschen unter Gefühlsblindheit leiden, und was man gegen diese neurologische Störung tun kann

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 35-07 vom 01. September 2007

Wie eine Schutzmauer im Gehirn
Wenn Menschen unter Gefühlsblindheit leiden, und was man gegen diese neurologische Störung tun kann
von Corinna Weinert

Es gibt Menschen, die nicht wissen, was Freude, Trauer oder Wut ist, weil sie Gefühle nicht wahrnehmen können – weder bei sich, noch bei anderen. Wer unter der sogenannten Gefühlsblindheit leidet, hat mit vielen Problemen zu kämpfen.

Renate S. bekam bei der Arbeit plötzlich einen Schwächeanfall. Die Kollegen riefen umgehend den Rettungsdienst und ließen die 42jährige Facharbeiterin ins Krankenhaus bringen. Dort konnte jedoch keine körperliche Ursache festgestellt werden. Erst die psychosomatische Abteilung der Poliklinik, in die man sie überwies, fand die Ursache heraus: Renate S. leidet an „Gefühlsblindheit“.

Bei Alexithymie, so der medizinische Fachausdruck für die neurologische Störung, wissen Menschen nicht, was Emotionen sind. „Die Betroffenen sind unfähig, Gefühle bei sich oder anderen zu erkennen“, erläutert Professor Harald Freyberger, der Leiter der psychiatrischen Klinik der Universität Greifswald. Statt Gefühle wahrzunehmen, werden die Betroffenen krank. Gefühle erleben sie nur als körperliche Symptome: Bauchbeschwerden, beunruhigender Herzschlag oder Schmerzen. Eine unangenehme Prüfungssituation zum Beispiel ruft keine Angst hervor, sondern Magendruck oder Kopfweh. Die Betroffenen stehen dauerhaft unter Anspannung und haben ständig große Mengen von Streßhormonen im Blut. Das bleibt nicht folgenlos: Erhöhter Blutdruck, Depressionen oder Rückenbeschwerden lassen sie von Arzt zu Arzt laufen. Nicht selten werden sie bei somatoformen Beschwerden als Simulanten abgetan oder müssen sich wirkungslosen Therapieversuchen unterziehen.

Alexithymie ist ein in der Öffentlichkeit relativ unbekanntes Phänomen, das aber gar nicht so selten ist. Statistisch gesehen leidet in Deutschland jeder Zehnte darunter, wobei Männer etwa zweimal häufiger betroffen sind als Frauen.

Gefühlsblindheit macht Menschen einsam, denn Gefühle nachvollziehen oder teilen zu können ist die Grundlage einer jeden Beziehung. Kaum ein anderes Phänomen erschwert das Miteinander so sehr wie die Alexithymie. Die Betroffenen haben ein Defizit, das sie schnell ins gesellschaftliche Abseits manövrieren kann.

Menschen kommunizieren nämlich nicht nur mittels Sprache, sondern auch durch Mimik, Gestik und Körperhaltung und transportieren so verborgene Botschaften, die mitunter gar nichts mit der verbalen Aussage zu tun haben. Wer diese Signale nicht deuten und darauf angemessen reagieren kann, steht außen vor.

„Die Betroffenen sind kaum oder gar nicht fähig, sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen“, erklärt Dr. Hans-Jörgen Grabe, der als leitender Oberarzt in der psychiatrischen Klinik der Universität Greifswald tätig ist.

„Menschen mit Gefühlsblindheit, die über ihre Gefühle sprechen sollen, sind vergleichbar mit Blinden, die Farben beschreiben sollen – man verlangt von ihnen über etwas zu sprechen, das ihnen grundsätzlich fremd ist“, erklärt der Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker Professor Matthias Franz von der Universitätsklinik Düsseldorf, der sich eingehend mit dem Thema beschäftigt. Übersetzt bedeutet das Wort Alexithymie, das aus dem Griechischen stammt, „keine Worte für Gefühle“.

Alexithymie ist vermutlich nicht angeboren, sondern wird früh im Leben durch bestimmte Ereignisse erworben. Eine Theorie, warum manche Menschen keine Gefühle wahrnehmen, ist die, daß sie als Kind solch eine Fähigkeit nicht entwickeln konnten. Neueste Studien zeigen, daß der Zugang zur eigenen Gefühlswelt wie auch der Zugang zur Gefühlswelt anderer Menschen grundlegend durch die Beziehung von Mutter und Kind geprägt wird. Schon Säuglinge heften normalerweise den Blick an das Gesicht der Mutter, das ihre Empfindungen spiegelt. Weint das Kleine, schaut sie besorgt, beruhigt es und – noch viel wichtiger – verbalisiert seine Empfindungen: „Hast du Aua? Bist du traurig?“ Dadurch lernt das Kind, körperliche Empfindungen zu deuten und Gefühle wie Angst oder Freude mit ihnen zu verknüpfen.

Manche Forscher sind wiederum davon überzeugt, daß die Ursachen für Alexithymie größtenteils in der Erziehung liegen. Grabe erläutert: „Wenn Eltern dem Kind nicht genügend Zuneigung geben oder das Kind zu stark kontrollieren, lernt es nicht, mit Gefühlen umzugehen. Dann kann es das auch als Erwachsener nicht.“ Wie differenziert jemand Gefühle wahrnehmen kann, hat laut Grabe wiederum Einfluß darauf, wie gut dieser mit emotionalen Belastungen fertig wird.

Es ist auch möglich, daß sich Menschen nach einem traumatischen Erlebnis abrupt ihren emotionalen Empfindungen und Wünschen verschließen. Gefühlsblindheit ist dann als Anpassungsstrategie zu deuten, die das Gehirn entwickelt, um vor dem bewußten Erleben negativer Gefühle zu bewahren. „Quasi wie eine Schutzmauer schottet die Gefühlsblindheit den Menschen dann mit Hilfe einer Fehlfunktion im Gehirn ab“, erklärt Grabe. Auch bei Soldaten wurde nach Kriegseinsätzen vorübergehende Gefühlsblindheit festgestellt.

Die Mediziner der psychiatrischen Klinik der Universität Greifswald glauben, daß bei Alexithymie-Betroffenen der Informationsfluß zwischen den Gehirnhälften gestört ist. „An unterschiedlichen Stellen gespeicherte Informationen können offensichtlich nicht mehr zusammengesetzt werden“, so Freyberger. Bedeutung hat das, weil die linke Gehirnhälfte für die sprachliche Verarbeitung der Gefühle zuständig ist, die rechte Seite aber den Gesichtsausdruck anderer Menschen erkennt.

Gehirnuntersuchungen ergaben, daß Funktionsveränderungen in bestimmten Gehirnbereichen vorliegen. In Versuchen wurde die Hirndurchblutung bei Probanden gemessen, die an eine extrem emotionale Situation denken sollten. Es ließ sich feststellen, daß sich das limbische System, das Zentrum der Gefühlsverarbeitung, kaum regte, dafür aber eine ganz andere Region im Gehirn, der Stirnlappen. Er ist in der Lage, die Weiterleitung emotionaler Reize zu unterbinden. Der Ablauf der Gefühlsbildung wird blockiert, emotionale Reize nicht an das dafür zuständige Zentrum der Gefühlsverarbeitung übermittelt.

Die betroffenen Person zeigen dann körperliche Reaktionen, zum Beispiel Bauchschmerzen statt Angst, Schwindel statt Wut. Gefühlsblindheit ist demnach nicht das Fehlen von Gefühlen, sondern ihre Unterdrückung.

Die Psychotherapie hat spezielle Behandlungstechniken entwickelt, bei der intensiv auf den Patienten eingegangen wird.

Im Gegensatz zur klassischen Therapie, bei der sich der Therapeut komplett zurücknimmt, gibt er dem Patienten mit Alexithymie emotional authentisch Rückmeldungen. „Der Therapeut hilft dem Patienten, seine Körperempfindungen als Gefühle zu begreifen und zu lernen, was es zum Beispiel bedeutet, wenn er Herzrasen hat“, schildert Franz.

Die Forschung steckt auf dem Gebiet der Behandlung aber noch in den Kinderschuhen. Nach einem traumatischen Erlebnis kann sich die Gefühlsblindheit wieder etwas zurückentwickeln, sobald die seelische Erschütterung überwunden ist. Für die Mehrzahl der Betroffenen trifft das aber nicht zu.

Foto: Erworbene Störung: Nicht jeder Mensch kann Empfindungen wie Freude, Liebe oder Angst ausdrücken.


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