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08.09.07 / Stille Farben / Die Heimat tief im Herzen prägt sie ein Leben

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 36-07 vom 08. September 2007

Stille Farben
Die Heimat tief im Herzen prägt sie ein Leben
von Renate Dopatka

Sie stand am Fenster, den Blick auf die in mattem Rotgold leuchtenden Alleebäume gerichtet – und fühlte Sehnsucht. Sicher, es war schon spät im Herbst. Die Sonne schien nur noch mit halber Kraft, und wer jetzt in heimischen Gefilden Urlaub machte, hatte nicht mehr viel vom Tag. So gesehen, war es eigentlich nur vernünftig, sich langsam einzuigeln. – Doch Helgards Blick vermochte sich nicht zu lösen von der bunten Farbenpracht des Ahorns. Vielleicht lag es daran, daß der diesjährige Sommerurlaub, den sie mit guten Freunden in den Allgäuer Bergen verbracht hatte, im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser gefallen war. Vielleicht trugen aber auch diese ungewöhnlich warmen, windstillen Herbsttage Schuld daran, daß ihr Herz unruhig wurde und sich danach sehnte, etwas bis zur Neige auszukosten, das in einigen Wochen nur noch Erinnerung sein würde.

Sie atmete tief durch. Dann griff sie zum Telefonhörer und wählte Brigittes Nummer. Als sie die etwas trübsinnig klingende Stimme ihrer Schwester vernahm, keimte Hoffnung in ihr auf. Möglicherweise würde es gar nicht so schwer sein, Brigitte für ihre Reisepläne zu gewinnen. Tatsächlich zeigte nicht nur ihre Schwester, sondern auch Schwager Rolf sofort Sympathie für ihre Idee einer herbstlichen Ostpreußenreise: „Damit kannst du uns immer hinterm Ofen hervorlocken“, lachte Rolf, der als aufgeschlossener Rheinländer die Heimat seiner Frau schon vor Jahren kennen- und liebengelernt hatte. „Uns fiel schon die Decke auf den Kopf: das herrliche Wetter – und wir sitzen zu Hause rum! Also, meine Beste, kümmere du dich ums Quartier, ich bring’ das Auto auf Vordermann!“

Zwei Tage später, bei unverändert schönem Herbstwetter, starteten die drei Richtung Osten. Die Landschaft gewann an Stille und Weite – und es wurde zunehmend kälter. Als sie gegen Abend ihr Ziel erreichten – jene ihnen schon von früheren Besuchen her vertraute kleine Pension nahe der Johannisburger Heide – schlug ihnen beim Öffnen der Autotür eisiger Wind entgegen. Die beiden Schwestern blickten einander zweifelnd an: „Soo kalt war’s zu dieser Jahreszeit früher aber nicht gewesen“, glaubten sie sich erinnern zu können. „Tja, wir sind immerhin nur etwa 2000 Kilometer von der westsibirischen Grenze entfernt“, gab Rolf schmunzelnd zu bedenken. „Der kalte Hauch des Ostens – das ist es ja wohl!“

Frostig blieb es auch in den nächsten Tagen. Wohl tauchte die Sonne das Land von früh bis spät in mildes Licht – die Kraft die Luft zu erwärmen, besaß sie nicht. Aber ihre Strahlen genügten, um das Herz zu wärmen und das schon spärliche Laubwerk der Birken wie verblichenes Gold glänzen zu lassen.

Besonders Helgard vermochte sich nicht satt zu sehen an den gedämpften Farben, die ungleich schöner mit dem stillen, schwermütigen Charakter dieses einzigartigen Landes zu harmonieren schienen als es das bunte Gepränge des Sommers tat. Natürlich genoß sie es, mit Schwester und Schwager auf alten Spuren zu wandeln. Schön war es, die vertrauten heckenlosen Sandwege zu beschreiten und sich von dem ungebremst daherbrausenden Herbstwind das Haar zausen zu lassen. Berührend und beschaulich zugleich, bei einem Besuch im Elternhaus auf der alten Ofenbank Platz zu nehmen und sich gemeinsam mit den jetzigen Bewohnern in der Kunst des Pilzeauffädelns zu üben.

Und doch waren es nicht die Spaziergänge oder das Wiedersehen mit vertrauten Dingen, die ihre Sehnsucht stillten, sondern jene stillen Momente völliger Selbstvergessenheit. Auf einem Baumstumpf am See zu sitzen und zuzusehen, wie die untergehende Herbstsonne das Wasser entzündete und es in flammendes Rot tauchte, und auch dann noch sitzenzubleiben, wenn bereits kalte Schwaden auf der Wasserfläche lagerten – dies tat ihrer Seele ebenso wohl wie der grauen Rauchsäule des Kartoffelfeuers nachzuträumen.

Wunderschöne, sonnenbeglänzte Tage reihten sich aneinander, deren Zauber auch nicht der eisige Ostwind zerstören konnte. Beim Abschied, beim letzten Blick zurück auf das verblassende Gelb der Birken und den schweigenden Nadelwald, der sich nun auf die noch stillere Zeit des Winterschlafes vorzubereiten schien, gab es Helgard einen Stich. Aber auch der änderte nichts am ruhigen Schlag ihres Herzens. Sie hatte sie ausgekostet – die Schönheit des Herbstes. Doch sie wußte: spätestens im Frühling, wenn Unmengen von Leberblümchen den Waldboden erblauen ließen und das Klappern der Störche die Luft erfüllte, würde sie wiederkommen – jene Sehnsucht, die nichts und niemand stillen konnte als das Land, dem sie entstammte ...


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