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22.09.07 / »Geben Sie der Stadt das ›Tilsit‹ wieder« / Rede des Stadtvertreters Horst Mertineit bei der wissenschaftlichen Tagung anläßlich des Jubiläums im Tilsiter Hotel Rossia

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-07 vom 22. September 2007

»Geben Sie der Stadt das ›Tilsit‹ wieder«
Rede des Stadtvertreters Horst Mertineit bei der wissenschaftlichen Tagung anläßlich des Jubiläums im Tilsiter Hotel Rossia

Wir sind hier zum Gedenken an ein Geschehen, das hier vor 200 Jahren stattfand. Hier, in der damals kleinen Stadt Tilsit, die aber in jenen Tagen der absolute Mittelpunkt der Welt war. Jeder, der ein solches Geschehen beschreibt, schildert seine Sicht, sein Wissen, seine Schlußfolgerungen, baut seine Konstruktionen, und oft werden Konstruktionen zu Illusionen. Bitte haben Sie Nachsicht mit mir, meine Sicht ist die eines Tilsiter Bürgers, der hier in dieser Stadt, ein paar hundert Meter von hier, vor 88 Jahren geboren wurde, der also zweifelsfrei im Moment der älteste Tilsiter hier ist. Mein Wissen gründet sich auf einer intensiven Suche seit meinen Jugendjahren nach dem Geschehen hier und nur schwach sekundär nach Schlußfolgerungen und Deutungen. Ich wollte wissen und festhalten, was war und nicht warum und was hätte sein sollen, oder was hätte sein können. Das letztere ist Sache von Geschichtswissenschaftlern, Politikern und entsprechenden Lehrern.

Das Ergebnis dieser Suche habe ich, sehr stark komprimiert, in einem kleinen Konzept, (in deutsch und russisch) zusammengefaßt. Wer werten und ordnen will, der sollte vorweg wissen was war.

Der äußere, der militärische Ablauf ist bekannt, Tilsit war das Ende des Vierten Koalitionskrieges. Hier befanden sich zwei Kaiser, ein König und eine Königin. Hier sollte der Frieden geschlossen werden. Preußen, besiegt, besetzt, war kein Gewicht mehr in dieser Runde. Napoleon sah weiträumig über das Geschehen, sah seine Macht, seinen Rheinbund, und sah auf den großen Machtblock Rußland und bemühte sich, deutlich erkennbar, den Zaren zum Verbündeten zu bekommen. Ich meine, aus diesem Denken heraus ließ er durch 150 französische Festungspioniere aus den Trümmern der Schiffbrücke die beiden Flöße bauen, die auf der Mitte der Memel verankert wurden. Gesagt und geschrieben ist das nirgendwo, aber eine erkennbare Andeutung der Grenze der Machtgebiete konnte das sehr wohl sein. Der Zar jedoch ging nicht darauf ein, stand seinem preußischen Bundesgenossen bei, aus welchen Gründen auch immer, und rettete Preußens Bestand. Dazu ein Zitat Napoleons zu dem Preußen von der Golz: „… Der König verdankt die Erhaltung seines Thrones nur dem Zaren Alexander – und was die Königin betrifft, sie ist nie meine Freundin gewesen, ich weiß es wohl, aber ich vergebe es ihr leicht …“. Trotz aller Zusammenkünfte der drei Regenten, trotz aller Gespräche kamen zwei Friedens-„Verträge“ heraus, die allein von Napoleon diktiert waren. Unterzeichnet in der Deutschen Straße 24 und nicht auf einem Floß. Die härtesten Bedingungen trafen Preußen, das an den Rand seiner Existenz gedrängt wurde, und sein Weiter-bestehen nur dem russischen Zaren verdankte. Es war eine der dunkelsten Stunden Preußens.

Das Geschehen dieser Tage ist so vielschichtig, daß eine Darstellung hier nicht möglich ist. Was blieb? – Es war hier für Frankreich, für Rußland und für Preußen Frieden. Man glaubte und man hoffte, Frieden für immer. Die Zukunft sagte nein. Es wird geschildert, daß Napoleon vor seiner Fahrt auf dem Floß lange alleine, barhäuptig am Ufer der Memel stand, und das wieder, bevor er die Stadt verließ. Was er dachte, weiß niemand, man kann es nur vermuten. – Und da macht man sich sein Bild: der seelenlose Machtmensch, der gnadenlose Tyrann. Man soll aber bedenken, daß er nicht nur ein genialer Heerführer war, sondern auch gleichzeitig ein überragender Staatsmann, dessen zivile Leistungen in Teilen die Zeiten überdauert haben. Solche Menschen stehen unter eigenem Zugzwang, nur dürfen sie nicht die unumstößlichen menschlichen Grundgesetze verachten, – was dann später in anderen Fällen leider geschah. – Der Friede hielt nicht. Mag Napoleon an der Memel darüber nachgedacht haben, ob er mit seiner Militärpolitik den „Rubikon“ überschreiten sollte, wobei sein Rubikon dann die Beresina war. Möglich. – Unter Zwang standen dann preußische Soldaten in Rußland gegen Rußland, was dann 1813 in Tauroggen durch Yorck und Diebitsch gewandelt wurde. In Ehren, das preußische Korps meldete sich beim französischen Oberkommandierenden ab und ging gegenüber Tilsit in die Neutralität und kämpfte nicht gegen Franzosen. Und dies wieder vor den Toren von Tilsit. Bei diesem Geschehen spielte die Stadt wieder eine wesentliche Rolle. Wenn ich nun einen Vergleich zu heute ziehen soll, wie der Tilsiter Frieden 1807 eine Richtwirkung auf den Bau „eines Europäischen Hauses“ haben kann, dann fühle ich mich überfordert. Zwar bin ich von Herkunft aus dieser Gegend Schalauer, bin Tilsiter, bin Ost-Preuße, bin Deutscher und leidenschaftlicher Europäer (mit kleinen Vorbehalten), und dennoch finde ich hier keine Konstruktion. – Lassen sie mich lieber sagen, was mit dieser Stadt, mit diesem Gebiet, in unserer Zeit ist: Nach bitteren Zeiten, in denen wir uns beiderseitig Schmerzen und Leiden zufügten, bin ich nach langen Jahren in meine Heimat gekommen mit Hoffnungen, aber ohne Plan. Unerwartet fand ich Verständigungsbereitschaft, Verständnis und daraus erwuchsen Freundschaften, wahre Freundschaften. Ich denke da an unseren Freund Isaak Ruthmann.

„Ich bin Russe und denke so, du bist Deutscher und denkst so, muß so sein, – aber wir bleiben Freunde“, so sagte er, und ich schrieb ihm dies in der Ferne in seine Grabrede. – Lassen Sie mich noch einmal nach 1807 zurückkehren: In einem Gespräch des preußischen Königs mit Napoleon sagte letzterer wütend: „Es liegt in meinem System, Preußen zu demütigen. Ich will, daß es nicht mehr eine Macht in der Waage Europas ist.“ Als der anwesende Zar einen Einwand erhob, sagte Napoleon: „Es muß immer ein ausgesprochener Haß gegen die Franzosen in den Herzen der Preußen bestehen. Diese Völker können sich nicht versöhnen, und ich will es wenigstens in die Unmöglichkeit versetzen, mir zu schaden.“ Das ist dunkelste Vergangenheit. Ich gestehe, daß es mich tief berührte, als die beiden alten Männer, der Franzose und der Deutsche, sich die Friedenshand reichten, und an einem 14. Juli in der Militärparade in Paris eine Einheit der deutschen Bundeswehr mitparadierte. Wir sind Freunde geworden. Es wird nie mehr einen Krieg mit Frankreich geben. So wird Europa. Und genauso angerührt war ich, als in Stettin mit Militärmusik eine Einheit mit polnischen, mit dänischen und mit deutschen Soldaten durch die Stadt zog. So wird Europa. – Ach könnte ich es doch noch erleben, daß eine Einheit von russischen und von deutschen Soldaten gemeinsam zum Elch zieht.

Freunde aus West und Ost: Dieses Gebiet, diese geschichtsträchtige Stadt haben die Aufgabe, verbindend zu wirken. Als hier noch die Raketen standen, war das eine Speerspitze gegen die Nato, lassen Sie es jetzt zu einem Brückenpfeiler zur werdenden Brücke nach Europa werden. Es wird nie mehr einen Krieg Deutschland–Rußland geben. Die Voraussetzungen sind beiderseits gegeben. Einen Wunsch lassen Sie mich zum Schluß noch anfügen, den Wunsch eines ehrlichen alten Mannes: In Paris, wenn man zum Arc de Triomphe kommt, geht nach rechts die Rue de Tilsitt ab. In der ganzen Welt findet man Straßen, Häuser, Lokale dieses Namens. Diese Gelegenheit hier ist einmalig: Geben Sie der Prawda, der geschichtlichen Wahrheit die Ehre und lassen Sie wieder Tilsit werden. Für meine Bemühungen um Ausgleich hat mir der deutsche Bundespräsident seinerzeit das Bundesverdienstkreuz am Bande, die Landeshauptstadt Kiel ihre höchste Auszeichnung, die Andreas-Gayck-Medaille, verliehen. Geben Sie meiner, Ihrer, unserer gemeinsamen Heimatstadt das „Tilsit“ wieder. – Es wird nicht allen gefallen, aber ich kann nicht anders. Vergeben Sie es mir, und nehmen Sie meinen Dank für Ihr Zuhören entgegen.


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