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06.10.07 / Zur Hexe ausgerufen / Beeindruckende Novelle von Wilhelm Raabe wiederentdeckt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-07 vom 06. Oktober 2007

Zur Hexe ausgerufen
Beeindruckende Novelle von Wilhelm Raabe wiederentdeckt

Der Dreißigjährige Krieg tobt in Deutschland. Unvorstellbare Greuel geschehen. Ganze Landstriche werden verwüstet. Der Krieg verwandelt die Menschen in blutrünstige Bestien. Aus Opfern werden Täter, die ihrerseits das Blutvergießen fortsetzen, und das Morden nimmt kein Ende.

Ein Mann verliert Frau und Kinder unter grausamsten Umständen. Nur eine Tochter kann er retten. Angewidert von der allgemeinen Unmenschlichkeit, zieht er sich in eine bescheidene Hütte im Wald zurück. Er hofft, abseits der Welt seinen Frieden zu finden. Doch das gelingt nicht. Seine Tochter gerät unverschuldet in den Ruf, eine Hexe zu sein. Feindseligkeit und Haß schlagen ihr von allen Seiten entgegen. Getroffen von den Steinwürfen aufgebrachter Dorfbewohner, stirbt sie an den Folgen der Verletzungen.

Wilhelm Raabe (geb. 1831), einer der bedeutendsten Erzähler deutscher Sprache, gelingt in seiner Novelle „Else von der Tanne“ ein erschütterndes Historiengemälde von überzeitlicher Aktualität. Daß Menschen grausam sein können, ist eine Binsenweisheit. Daß sich der Haß der Massen oft an den Schwächsten und Unschuldigsten austobt, ist eine traurige Tatsache, für die es in der Geschichte zahllose Beispiele gibt.

Else fällt dem Hexenwahn zum Opfer. Allein die Tatsache, daß sie mit ihrem Vater zurückgezogen im Wald lebt und nicht im Dorf, macht sie zur beargwöhnten Außenseiterin. Der junge Pfarrer des Dorfes versucht vergeblich, seine Gemeinde zur Vernunft zu bringen. Der blinde Volkszorn brodelt bereits so heftig, daß das Verhängnis nicht mehr aufzuhalten ist. Alle wollen Elses Tod.

Knapp ein Jahr vor dem Erscheinen von „Else von der Tanne“ beendete Raabe seinen wohl bekanntesten Roman „Der Hungerpastor“, dem er als Motto einen Satz von Sophokles voranstellte: „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich hier.“ In „Else von der Tanne“ zeigt Raabe, wozu Haß, fehlendes Verständnis und Rücksichtslosigkeit führen können.

Dabei hält Raabe sich mit Schuldzuweisungen an die aufgebrachte Bevölkerung des kleinen Ortes Wallrode im Elend weitgehend zurück, erfindet sogar hilfsweise Erklärungen für ihre Verhaltensmuster. Else und ihr Vater werden von Anfang an sozial ausgegrenzt. Nur der Pfarrer hält zu den beiden Flüchtlingen, besucht sie und versucht, zwischen ihnen und den Dorfbewohnern zu vermitteln. Schließlich gerät der Pfarrer zwischen die Fronten und scheitert in seinem Vorhaben, zu vermitteln.

Zwölf Jahre lang hat Elses Vater seine Tochter vor den Grausamkeiten des Krieges im Wald verstecken

können. Doch dann ereilt sie das Schicksal, vor dem er sie bewahren wollte. Die Einwohner des Harzdorfes rotten sich zusammen: „Man riß Stöcke aus den Hecken und Zäunen, man griff Steine vom Boden auf“, man holte Äxte, Dreschflegel und Mistgabeln. „Geschüttelt vom Wahnsinn der Zeit“ bewirft man Else mit Erdbrocken und Steinen, bis sie, von einem großen Stein getroffen, zusammenbricht. Sechs Monate später stirbt sie zu Weihnachten an den Folgen dieser Verletzung. Der junge Pfarrer, von Trauer und Verzweiflung um den Verstand gebracht, folgt ihr in den Tod, indem er bei klirrendem Frost in die Wildnis taumelt, um dort zu erfrieren. Wilhelm Raabe ist es gelungen, ein erschütterndes Mahnmal gegen den Haß und die Vorurteile zu schaffen, das auch heute nichts an Aktualität und Brisanz eingebüßt hat. Der Verlag Literarische Tradition hat das alte Stück wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Katja Wolff

Wilhelm Raabe: „Else von der Tanne“, Verlag Literarische Tradition, 116 Seiten, 10,95 Euro, Best.-Nr. 6373


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