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13.10.07 / »Drum prüfe wer sich ...« / Charakterfestigkeit ist eine selten gewordene Eigenschaft

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 41-07 vom 13. Oktober 2007

»Drum prüfe wer sich ...«
Charakterfestigkeit ist eine selten gewordene Eigenschaft von Werner Hassler

Als Lea die Beziehung zu Uwe beendete, drohte er in ein tiefes, schwarzes Loch zu fallen. Obwohl man Liebeskummer wie eine Krankheit durchstehen muß, mochte er sich nicht in Selbstmitleid vergraben. Ein Zufall half ihm, die Leere und die Krise zu bewältigen. Beim Frühstück kleckste Marmelade auf die Tageszeitung. Mit einer Serviette saugte Uwe die süße Frühstücksbeigabe auf. Darunter kam eine Anzeige zum Vorschein:

  „Rita, hübsch, Mitte 20, schulterlanges schwarzes Haar, sucht charakterfesten Mann. Spätere Heirat nicht ausgeschlossen.“

 Uwe hielt nachdenklich inne. Sollte das nicht ein Wink sein, daß ausgerechnet auf diese Anzeige die Marmelade getropft war? Verbarg sich dahinter etwa ein süßes Geheimnis? Kurzentschlossen antwortete Uwe auf das Inserat. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, und so begann eine herzliche Brieffreundschaft zwischen Rita und Uwe.

 „Ich suche kein Abenteuer, sondern ehrliche Zuneigung eines wirklich charakterfesten Menschen“, schrieb Rita damals in ihrem ersten Brief. Uwe wollte ihre Briefe nicht mehr missen. Und heute wollten sie sich zum ersten Mal treffen. Sie werde die Reise mit der Bahn antreten. Sie freue sich darauf, schrieb Rita, ihn persönlich kennenzulernen, und all das, was er ihr in so vielen Briefen geschildert habe. Einen Strauß Tulpen würde sie als Erkennungszeichen in der Hand halten. Überhaupt war Rita ihm gegenüber im Vorteil, da sie etliche Bilder von ihm besaß, er aber kein einziges von ihr.

 Nach einer unruhigen Nacht war Uwe viel zu früh aufgewacht. Wohl zum hundertsten Mal stand er vor dem Spiegel, begutachtete kritisch sein Outfit und war immer noch nicht mit seinem Spiegelbild zufrieden. Zum xten Mal für heute überflog er ein paar Briefe, die Rita zuletzt geschrieben hatte. Er legte sich einige gute Redewendungen zurecht. Schließlich wollte er im Gespräch nicht allzu hölzern klingen.

  Mehr als eine Stunde zu früh stand Uwe schließlich in der belebten Bahnhofshalle. Er stellte sich zwischen die großen Pfeiler, von wo aus er die Halle besser überblicken konnte. Immer wieder kamen Reisende die Treppe herunter, manche sahen sich erwartungsvoll um, andere fielen sich lachend in die Arme oder vergossen ein paar Tränchen.

  Plötzlich zuckte Uwe zusammen. Die junge Frau dort. Sie ging leicht und federnd. Ihr schwarzes Haar glänzte wie Seide und kringelte sich bis zu ihren Schultern. Ihre Lippen waren ungeschminkt. Sie trug einen hellblauen Mantel und lächelte ihm freundlich zu. Uwes Herz schlug schneller, doch dann bemerkte er, daß sie keine Tulpen trug. Langsam ging sie an ihm vorbei, und Uwe blickte enttäuscht dem bezaubernden Geschöpf nach.

 Und dann sah er die Frau. Sie hielt in der linken Hand einen bunten Strauß Tulpen und blickte ihn prüfend an. „Fräulein Rita?“ fragte Uwe - in der stillen Hoffnung, die Angesprochene würde ihn auf eine Verwechslung hinweisen. 

Aber die Dame deutete ein kaum erkennbares Nicken an. Uwe fühlte sich verunsichert, starrte sie verlegen an und schluckte. Die Unbekannte war eine Frau von Mitte 40. Ihre Haare waren rot und zu einem schlichten Knoten zusammengebunden. Daß sie nicht hübsch ist, dafür kann sie nichts, dachte Uwe. Aber diese Frau konnte doch unmöglich seine Rita sein.

 Sie schien viel älter, als in den Briefen geschildert. Warum hatte Rita nicht die Wahrheit geschrieben. Er erinnerte sich wieder an die schmerzliche Enttäuschung mit Lea. Sollte er wieder an die Falsche geraten sein? Er mußte wieder an das Mädchen von eben im hellblauen Mantel denken. Aber dann erinnerte er sich wieder an den stets lustigen Briefwechsel und trat zögernd vor sie.

  „Rita, ich freue mich, daß du gekommen bist!“ Uwe spürte selbst, wie hohl und unglaubwürdig dieser Satz klang. „Hast du eine gute Reise gehabt? Du wirst bestimmt Hunger haben!“ Zu dumm, etwas anderes wollte Uwe im Moment nicht einfallen.

  Aber seine Selbstsicherheit ließ ihn gänzlich im Stich. Er war so in Gedanken versunken, daß er nicht bemerkte, wie sich sein Gegenüber köstlich amüsierte. Doch dann lächelte sie ihm zu und sagte leise: „Auf der langen Reise hierher begleitete mich eine hübsche junge Dame in einem hellblauen Mantel. Es war eine wirklich nette Reisebekanntschaft. Sie zeigte mir Ihre Fotos und bat mich, die Tulpen zu nehmen und zu warten, ob Sie auf mich zukommen würden. Ich glaube, Sie haben den Test bestanden, und deshalb wird Rita drüben an der Ecke hinter dem Pfeiler auf Sie warten! Noch etwas: Vergessen Sie die wunderschönen Tulpen nicht!“

 Uwe fühlte sich wie in dichten Nebel gehüllt, der sich ganz allmählich in lauter rosa Wölkchen verwandelte. Dann eilte er Rita entgegen, seinem süßen Geheimnis; sicherlich so süß, wie es die Marmelade, die auf die Zeitung getropft war, versprochen hatte!


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