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27.10.07 / Verbotene Trauer, verdrängte Erinnerung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43-07 vom 27. Oktober 2007

»Moment mal!«
Verbotene Trauer, verdrängte Erinnerung
von Klaus Rainer Röhl

Den Film haben wir wahrscheinlich alle gesehen: „Suchkind 312“. Eine ganz normale Ehefrau aus den 50er Jahren, verheiratet, ein Kind, die mit ihrem Mann zusammen ein Häuschen und eine bürgerliche Existenz aufgebaut und die furchtbaren Erlebnisse am Ende des Krieges fast vergessen hat, erkennt plötzlich beim Blättern in einer Rundfunk-Zeitschrift das Bild ihres eigenen Kindes, das sie am Ende des Krieges auf der Flucht vor den Russen verloren hat. Es ist das Bild eines Waisenkindes, das seine Mutter sucht, eben ein Suchkind. Es war ihre uneheliche Tochter mit einem Fliegerleutnant, der als gefallen gemeldet worden war. Solche Geschichten hat es tatsächlich gegeben und auch die Rundfunkzeitung, die, in ganz Deutschland mit Ausnahme der Ostzone verbreitet, jede Woche solche Suchbilder veröffentlichte. Es war die „Hör zu“, und der erste Chefredakteur dieser Zeitschrift, Eduard Rhein, hatte damals einen Roman über dieses besondere Schicksal geschrieben, mit dem Titel „Suchkind 312“. Der Fernsehfilm, 60 Jahre danach gedreht, ist auch ein bißchen rührselig geworden. Als habe ihn Eduard Rhein in jener Zeit selbst gedreht oder einer der Regisseure der damals so beliebten, in jeder Hinsicht schwarzweißen Heimkehrerfilme wie der „Der Arzt von Stalingrad“ oder „Soweit die Füße tragen“.

Die Suchkinder waren Kinder, die während der Flucht vor den Russen ihre Mutter verloren hatten, allein herumirrten und, irgendwann aufgegriffen, teilweise nicht einmal ihren Vornamen sagen konnten. Solche Schicksale waren keine Einzelfälle, sie kamen massenweise vor, weil die Mütter von Russen (oder Polen) millionenfach vergewaltigt, verschleppt und auch getötet wurden oder sich selber das Leben nahmen.

Von ihnen zu reden oder gar zu schreiben oder Filme über sie zu drehen war 60 Jahre lang quasi verboten. Weil es verpönt war, von deutschen Kriegsopfern und -toten zu reden. Erst 55 und mehr Jahre nach Kriegsende ließen Fernsehdokumentationen von Guido Knopp und anderen Filmemachern, zuletzt auch der aufwendig gedrehte Zweiteiler „Die Flucht“, etwas von der Wirklichkeit – und dem Umfang alliierter Kriegsverbrechen gegen Deutsche ahnen. Nie, ohne vor, während und nach dem Film ein ausführliches, kollektives Schuldbekenntnis zu deutschen Verbrechen draufzupappen, hineinzuschneiden. Geschenkt. Die Vertriebenen waren schon froh, daß ihr Schicksal nach so langer Zeit überhaupt thematisiert wurde.

Die Suchkinder zählten nach Hunderttausenden. Millionen Verschollener suchten nach dem Krieg, ab Oktober 1945 ihre Angehörigen über den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes, bei dem 17 Millionen Suchanfragen aufliefen. Bis heute sind 1,3 Millionen Verschollenen-Schicksale noch ungeklärt. Ruth Geede sucht in dieser Zeitung Woche für Woche noch nach Vermißten – und findet immer wieder Verschollene und Hinweise auf Vertriebenen-Schicksale.

Warum werden die Erlebnisse der Millionen Deutschen im Osten, die über zwei Millionen Toten und die Millionen vergewaltigter Mädchen und Frauen vor und nach dem Kriegsende jetzt erst, und noch immer zögerlich, thematisiert? Das Thema Untergang der „Wilhelm Gustloff“ – jetzt für das ZDF verfilmt – war 55 Jahre kaum Thema in Deutschland, trotz der verdienstvollen Dokumentationen von Heinz Schön. Erst durch Günter Grass‘ Novelle „Im Krebsgang“ (Mai 2002) und, sicher in geringerem Umfang, auch durch das Buch des Verfassers „Verbotene Trauer“ (ebenfalls Mai 2002) wurde eine der großen Tragödien des letzten Kriegsjahres einer breiten Öffentlichkeit überhaupt bekannt.

Langsam sterben die Zeugen aus. Nicht nur bei der „Wilhelm Gustloff“, wo es von zirka 10000 Passagieren nur 1200 Überlebende gab. Auch bei den Suchkindern, den vergewaltigten Frauen und den anderen Opfern der Massenverbrechen der Roten Armee, der polnischen und der tschechischen Milizen. Die Gegner der Vertriebenen hofften auf das Vergessen. Schon die erste SPD-Koalition setzte in bezug auf die Vertriebenen auf die „biologische Lösung“. Erst recht die rot-grüne Regierung. Doch die überlebenden Vertriebenen erwiesen sich als überraschend gesund und zählebig. Sie haben sogar die Geduld, 62 Jahre nach Kriegsende immer noch auf die ihnen immer wieder versprochene Gedenkstätte, das „Zentrum gegen Vertreibungen“, zu warten.

Was fehlt, ist die Weitergabe der Erinnerung, wie sie bei anderen Völkern selbstverständlich ist. Die Palästinenser werden nicht müde, das von Israel im Verlauf von drei Kriegen besetzte Territorium als ihre Heimat zu reklamieren, schon in der dritten Generation. Der zweiten und dritten Generation der Armenier, die seit den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts den Massenmord an ihrem Volk durch die Türken anklagen, ist es gelungen, die Erinnerung an die Ermordung von rund einer Million ihrer Landsleute lebendig zu erhalten und die Leugnung dieses Genozids in Frankreich sogar unter Strafe stellen zu lassen. Etwas Vergleichbares fehlt der Generation unserer Kinder und Enkelkinder.

Der Autor war im Sommer mit einem Bus voller Ostpreußen unterwegs in dem russisch besetzten Teil Ostpreußens, den „Oblast Kaliningrad“. Die meisten Mitreisenden, die in das Samland einreisten, waren bei Kriegsende Kinder. Sie alle waren auf der Suche nach ihren Wurzeln und ihren Heimatorten. Meistens fanden wir nur Trümmer ihrer Geburtshäuser oder ein paar Backstein-Portale einer früheren Kirche, gelegentlich nur Mauern oder Steine. Unter unseren Reisenden waren auch zwei der sogenannten „Wolfskinder“, von denen es in ganz Deutschland und in Litauen nur noch wenige Hundert gibt: Kinder, deren Mütter in ihrer Gegenwart erschlagen oder verschleppt wurden und die sich in den Wäldern versteckt hielten, überlebten und später eine Pflegefamilie fanden, meist in Litauen. Irgendwie gelang es den meisten, in die damalige DDR und schließlich in die Bundesrepublik zu gelangen, wo sie einen neuen Wohnort fanden. Ihre Berichte, zögernd den Mitreisenden mitgeteilt, waren erschütternd genug.

Forschung und Wissenschaft machten über Jahrzehnte einen Bogen um die Geschichte der Vertreibung, und die Greuel verschwanden aus Schulbüchern und Lehrplänen, in denen seit dem Siegeszug der 68er dafür verstärkt die Verbrechen des NS-Regimes und sogar der deutschen Wehrmacht thematisiert wurden. Die Familien waren die einzige Stelle, in der über die Vertreibungsverbrechen überhaupt noch gesprochen wurde. Manchmal. Wenn die Mütter, durch Verdrängung oder aus falscher Scham, über die Vergewaltigungen schwiegen wie die Mutter von Günter Grass, wurden die Großmütter gar nicht erst gefragt. Die Enkelkinder wissen heute kaum noch, was Nemmersdorf in Ostpreußen oder Brünn im Sudetenland bedeuten.

Auf unserer Busreise durch das Samland legte der Reiseleiter in Abweichung vom Programm einen Stop in Nemmersdorf ein, da wir ohnehin Dörfer besuchten, die wenige Kilometer davon entfernt waren. Fast niemand aus unserer Reisegruppe kannte die Geschichte von Nemmersdorf. Sie kommt in den Schulbüchern nicht vor:

In Nemmersdorf drangen am 23. Oktober 1944 die Russen in deutsches Staatsgebiet ein. Es war eine Art Erkundigungsvorstoß. Der Einbruch der russischen Panzerverbände der 11. Garde-Armee unter Generaloberst Galitzki wurde durch einen deutschen Gegenangriff abgeriegelt, Nemmersdorf  und viele andere Ortschaften im Kreis Gumbinnen wurden zurückerobert. Die Sowjets stellten den Vorstoß vorläufig ein, ihr Großangriff begann erst am 12. Januar. Während der kurzen sowjetischen Besetzung wurde die gesamte Zivilbevölkerung von Nemmersdorf und anderen Ortschaften umgebracht, teils auf barbarische Weise.

Nach neuesten Untersuchungen, die im November 2001 in der Fernsehsendung „Die große Flucht“ vorgetragen wurden, waren die Bilder von den vergewaltigten und anschließend verstümmelten und an einem Scheunentor gekreuzigten Frauen von deutschen Stellen manipuliert, ein Augenzeuge berichtete aber von fünf Mädchen und Frauen, deren Leichen er an die Wand einer Scheune in Nemmersdorf genagelt gesehen habe. Mag sein, daß die Leichenfunde  nachträglich noch für die neutrale Presse, die schwedischen und Schweizer Fotografen, die Goebbels einlud, arrangiert worden sind. Die Wirklichkeit war schlimm genug. Alle Einwohner des Dorfes – bis auf eine Zeugin, die durch Zufall schwerverwundet überlebt hatte – waren erbarmungslos umgebracht worden, Greise, Frauen und Kinder bis zum gerade geborenen Baby.

Nemmersdorf steht in keinem Schulbuch. Sollen wir alles vergessen? Oder relativieren mit dem Hinweis auf Hitlers Krieg?

Klaus Rainer Röhl  veröffentlichte 2002 das Buch „Verbotene Trauer“, 245 Seiten, 19,80 Euro.

Foto: Suchkind 312: Christine Neubauer spielt eine Mutter, die ihre bei der Flucht aus Ostpreußen verlorene Tochter findet.


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