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27.10.07 / Geklaute Leben / Kinder, ihrer Familien und ihrer Identität beraubt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43-07 vom 27. Oktober 2007

Geklaute Leben
Kinder, ihrer Familien und ihrer Identität beraubt

Wie können Kinder derartiges durchstehen und danach auch noch mehr oder minder erfolgreich durchs Leben gehen? Der Journalist und ZDF-Redakteur Peter Hartl hat in „Belogen, betrogen und umerzogen – Kinderschicksale aus dem 20. Jahrhundert“ Erschütterndes zusammengetragen.

So hat Alojzy Twardecki drei Leben, eines als Alojzy, eines als Alfred Hartmann und eines als Alfred Binderberger. 1943 wird der Fünfjährige seiner polnischen Mutter Malgorzata von den Nationalsozialisten weggenommen. Der Junge, der zwei deutsche Großmütter hat, weist optisch alle gewünschten arischen Merkmale auf. Er kommt in ein deutsches Kinderheim, wo man ihm erzählt, er wäre Alfred Hartmann, der Sohn eines gefallenen SS-Offiziers. Und Alfred glaubt seinen Erziehern, genauso wie seine Adoptiveltern, die dem Jungen ein liebevolles Zuhause geben. Als Alfred Binderberger besucht er, stolz ein Deutscher zu sein, ein Gymnasium und auch sein Großvater väterlicherseits umsorgen den Stammhalter mit besonderer Aufmerksamkeit. Doch 1949 flattert ein Brief ins Haus, Malgorzata hat über das Rote Kreuz ihren Sohn ausfindig gemacht und will ihn wiederhaben. Doch für Alfred ist die Familie Binderberger seine einzige Familie. Er verweigert sich – bis seine Pflegemutter stirbt und sein Pflegevater neu heiratet. Trotzig begehrt Alfred auf, will, um seinen Vater zu verletzten, seine leibliche Mutter kennenlernen, dieser läßt ihn gewähren, doch die Polen lassen Alfred nie wieder aus dem Land. Alfred wird wieder Alojzy, lebt bei einer Mutter, deren Sprache er nicht spricht, und wird in der Schule als Nazi beschimpft. Trotzdem findet er seinen Weg.

Doch Alojzy alias Alfred ist nur eines von vielen Kindern, das mehrere Leben hat und von politischen Systemen ausgenutzt wurde. Ob Nationalsozialismus, Sowjetunion, DDR, „die weltanschaulichen Parolen mögen grundverschieden, manchmal konträr zueinander stehen, doch die Grundmuster gleichen sich“, so Autor Peter Hartl.

Die kleine Kafina, vermutlich irgendwo in Ostpreußen geboren, weiß bis heute nicht, wer sie ist, sie wurde allerdings zur guten Sowjet-Bürgerin erzogen. Alles was an ihr deutsch war, wurde ihr und ihrer Schwester Lena ausgetrieben. „Wenn wir deutsch sprachen, beschimpften uns auch die anderen Kinder … Die Erinnerung an frühere Zeiten wurde getilgt in den Kinderköpfen.“

Schockierend ist auch das geschilderte Schicksal von Christian Dertinger. Die DDR nahm die Familie ihres 1953 inhaftierten Außenministers Georg Dertinger in Sippenhaft. Während Mutter, Geschwister und Großmutter ebenfalls ins Gefängnis kamen, wurde der kleine Christian erst nur in seinem Elternhaus festgehalten. Monate ohne Ansprache und Unterricht zogen zäh an ihm vorüber – bis er zu Pflegeeltern kam. Diese linientreuen SED-Anhänger erzählten ihm, er wäre gar nicht der, der er zu sein glaubte, sondern eine Waise. Christian glaubte ihnen lange – bis er über immer mehr Ungereimtheiten stolperte.

Die meisten der Kinder wurden ideologisch mißbraucht, ihrer Identität beraubt und wuchsen häufig auch ohne feste Familie auf. „Belogen, betrogen und umerzogen – Kinderschicksale aus dem 20. Jahrhundert“ öffnet ein düsteres Kapitel des 20. Jahrhunderts.    Bel

Peter Hartl: „Belogen, betrogen und umerzogen – Kinderschicksale aus dem 20. Jahrhundert“, dtv premium, Hardcover, 214 Seiten, 15 Euro, Best.-Nr. 6413


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