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10.11.07 / Hoffnungsträger treibt es weg / Königsbergs Jungakademiker sehen ihre Zukunft außerhalb des Gebietes

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-07 vom 10. November 2007

Hoffnungsträger treibt es weg
Königsbergs Jungakademiker sehen ihre Zukunft außerhalb des Gebietes
von Jurij Tschernyschew

Eine jüngste Meinungsumfrage unter Studenten verschiedener Fachrichtungen der Königsberger Hochschulen, die kurz vorm Abschluß ihres Studiums stehen, hat zum Ergebnis, daß die Mehrzahl das Königsberger Gebiet verlassen möchte. Der größte Teil dieser Jugendlichen will ins nicht-russische Europa und der Rest nach Moskau oder Sankt Petersburg ziehen. Unter den europäischen Staaten wurden öfters die Republik Polen, die Bundesrepublik Deutschland und das Königreich Schweden als Wunschziel genannt. Die Mehrheit der Studenten hat diese europäischen Länder bereits besucht und insofern ziemlich gute Vorstellung vom Leben in diesen Staaten. In diesem Jahr zum Beispiel studieren 500 Angehörige der Immanuel-Kant-Universität im Ausland.

Wie Galina P., die an der Fakultät für Linguistik und interkulturelle Kommunikationen der Königsberger Kant-Uni studiert: „Ich habe vor, ins Ausland zu gehen, am ehesten nach Deutschland. Ich lerne zwei Sprachen, Deutsch und Englisch, kann aber besser Deutsch. Ich möchte als Dolmetscherin / Übersetzerin arbeiten“.

Der Student Alexander I. hat an der Königsberger Technischen Universität Fertigungs- und Führungsautomation belegt: „Ich habe vor, in ein EU-Land zu gehen, da ich in Fremdsprachen nicht schlecht bin und hoffe, daß ich in meinem Beruf einen besseren und höheren Arbeitslohn finden werde, als in Königsberg.“

Andrej G. von der Baltischen Staatlichen Akademie studiert an der Transportfakultät: „Ich sehe bessere Chancen, wenn ich im Ausland arbeite.“ Andrej würde am liebsten auf einem Seeschiff arbeiten, aber in der letzten Zeit gebe es im Königsberger Gebiet immer weniger Schiffe.

Maria D. vom Fachbereich Botanik der Biologiefakultät der Kant-Uni beklagt, daß ihre Heimatstadt Königsberg, die noch vor einigen Jahren an Gärten erinnert habe, sich zu einem „Steindschungel“ entwickele. Einzigartige Pflanzen aus der Vorkriegszeit würden nun abgeholzt und die Grundstücke bebaut werden nach dem Prinzip „Mehr Platz bebauen, weil die Finanzmittel es zulassen“. Maria hat bereits Erfahrungen in Dänemark gesammelt. „In diesem skandinavischen Land wird der Umwelt und der Gesundheit der Menschen große Aufmerksamkeit geschenkt, es gibt schöne Parkanlagen, Plätze, wo erst gar nicht in Frage kommt, daß anstelle der Grünanlagen Supermärkte und Freizeitzentren gebaut werden könnten.“

Witalij K. studiert an der Wirtschaftsfakultät der Kant-Uni: „In einem Jahr, wenn ich mit meinem Studium fertig bin, wird sich in unserer Stadt kaum etwas verändert haben, deshalb sehe ich keinen Sinn darin, länger in Königsberg zu bleiben. Ich spezialisiere mich auf den Handel, und in Polen beispielsweise ist es viel einfacher, sich geschäftlich zu betätigen und eine Aufenthalterlaubnis zu bekommen. Ein Kaufmann in Königsberg zu sein, ist außergewöhnlich schwierig, da es hier in mehreren Branchen Monopole gibt und jemand, der ein Geschäft eröffnen möchte, es äußerst schwer hat, den Bürokratismus der Beamtenseelen zu überwinden, ohne zu schmieren.“

Natalia T., Studentin der Fakultät für Psychologie und Soziales der Kant-Universität: „Ich möchte nach Schweden ausreisen. Die Arbeit im sozialen Bereich wird in Königsberg schlecht bezahlt, obwohl die Nachfrage groß ist. Aber nicht nur die bessere Bezahlung im Ausland ist für mich attraktiv. Die Sache ist die, daß viele junge Leute in Königsberg konsumorientiert sind und ihre Lebensweise moralisch degeneriert ist. Ich wohne in der Mitte Königsbergs. Wenn man abends ausgeht, sieht man in Hauseingängen Zigarettenstummel, Flaschen und Spritzen liegen – Hinterlassenschaften der Freizeitgestaltung der heranwachsenden Königsberger Jugend. Dagegen helfen weder Türsprechanlagen, noch Schlösser mit Schlüsseln. In Höfen, an Bänken, Baumstümpfen, Umzäunungen und überall, wo man sich treffen kann, improvisieren Gruppen Jugendlicher Saufgelage, die oft bis nach Mitternacht andauern. Gegen Morgen zerschellen Flaschen auf der Straße, unmenschliches Geschrei und Gestreite ist zu hören. In Schweden oder anderem europäischen Land gibt es keine solche Toleranz gegenüber Ausschweifungen wie bei uns. In Königsberg verkaufen die Supermärkte fast rund um die Uhr Alkohol. Weil die Cafés nachts geschlossen sind, versammelt sich das ganze Publikum in Höfen, auf Plätzen und im Zentrum der Stadt auf dem Siegesplatz. Da keine Toiletten zur Verfügung stehen, verrichten sie ihre Notdurft in den Hauseingängen. Deshalb können wir unsere Fenster nicht öffnen, weil der Gestank von der Straße in die Wohnungen dringt. Man hat das Gefühl, über einer Toilette zu wohnen. Abends verwandelt sich die Stadt in einen Tiergarten. Man sieht kaum noch Menschen mittleren Alters oder Ältere auf der Straße, weil sie Angst haben auszugehen und lieber zu Hause sitzen. Doch der Wunsch, menschenwürdig zu leben, besteht noch.“

Tatjana D. ist Nataljas Freundin. Sie studiert Industrie- und Zivilbau an der Kant-Uni: „Ich habe vor, nach Moskau zu ziehen, da gibt es mehr Möglichkeiten, Karriere zu machen. Das Preisniveau in Königsberg ist fast wie in Moskau, aber der Arbeitslohn ist deutlich geringer. In der letzten Zeit kommen im Zusammenhang mit der Anwerbung von Aussiedlern einige Leute nach Königsberg, die viel Geld haben. Aus diesem Grund sind die Preise für Wohnungen fast so hoch wie in vielen europäischen Städten. Die Qualität der Kommunalleistungen bleibt hingegen niedrig, da mehrere Versorgungsleitungen noch aus Vorkriegszeiten stammen. Es werden viele Wohnungen gebaut, aber die Versorgungsleitungen bleiben alt.“

Pjotr N. von der Wirtschaftsfakultät der Kant-Uni: „Ich mache gerade meinen Abschluß im Fach Produktionsmanagement. In Königsberg wird zur Zeit überwiegend in den Bau von Geschäftszentren sowie in Handels- und Freizeitkomplexe investiert. Für die Arbeit bei diesen werden hauptsächlich beratende Fachverkäufer und weitere Fachkräfte aus der Handelsbranche gesucht. Die Industrie entwickelt sich schlecht, und die Fachkräfte dieser Branche werden schlecht bezahlt. Ich möchte aus diesem Grunde nach Moskau zu meinen Verwandten ziehen, weil mir da mehr Möglichkeiten angeboten werden, Arbeit zu finden.“

Die Kommilitonin Maria L. studiert an der Fakultät „Sozialkultureller Service und Tourismus“: „Nach Abschluß meines Studiums möchte ich zu meinem Freund Christian fahren, der in Wien wohnt. Für meinen Beruf werden Fachkräfte an mehreren Hochschulen ausgebildet, der Verdienst bei Reiseagenturen liegt bei 150 bis 200 Euro im Monat für Anfänger.“

Über 60 Prozent der Hochschulabgänger träumen von der Ausreise aus dem Königsberger Gebiet. Zum einen rechnen sie sich bessere Aussichten auf eine erfolgreiche Karriere aus. Zum anderen empfinden sie die Lebensqualität und -art im Ausland als attraktiver, eines intelligenten und gut ausgebildeten Menschen angemessener.

Foto: Jugendliche im Königsberger Gebiet: Viele sehen in ihrer Heimat keine Perspektive.


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