29.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
22.12.07 / Die ostpreußische Familie extra / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51-07 vom 22. Dezember 2007

Die ostpreußische Familie extra
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied,
liebe Familienfreunde,
 
nun ist das schönste aller Jahresfeste gekommen, viele von uns haben auf einer Adventsfeier im Kreis der Landsleute und Schicksalsgefährten die alten Weihnachtslieder gesungen und sich wieder in die Kindheit zurückversetzt gefühlt. Und der Schein der Kerzen, die entzündet wurden, leuchtet in die Weihnachtstage hinein und erhellt auch die stillen Stunden, wenn nur die Erinnerung zu Gast ist. Sie ist der treueste Besucher, kommt ungebeten, holt so vieles aus ihrem Gabensack, was im Alltag vergessen schien. Gerade die Ältesten unter uns denken mit Dankbarkeit an die Weihnachtstage in der Heimat zurück, die noch so unbeschwert waren. Anders ist es da schon bei denen, die ihre frühe Kindheit im Fluchtwagen oder in Notquartieren verbringen mußten. Oder in Kinderheimen, wo es manchmal nicht einmal eine Kerze gab, keine Pfeffernuß, keinen Apfel, kein Marzipanherz.

Warum ich meine Extra-Familie diesmal so beginne, hat seinen Grund. Sonst pflege ich ja gerade zum Christfest meine schönsten Familiengeschichten zu bringen, jene kleinen oder großen Wunder, die im Laufe des Jahres geschehen sind. Die gab es auch in diesem Jahr, aber viele habe ich aufgrund der Emotionen, die durch den Film „Die Flucht“ geweckt wurden, bereits gebracht, denn sie hingen mit jenen gravierenden Ereignissen zusammen. Natürlich gibt es immer neue Erfolge, und ich werde die letzten auch in unsere reguläre Kolumne in dieser Weihnachtsnummer einfügen. Aber ich habe seit langem einen Brief aufbewahrt, dem ich einen besonderen Platz einräumen wollte und den er nun bekommt – in dieser Extra-Familie. Es ist ein so außergewöhnliches Schicksal, das hier aufgezeigt wird, daß dieser Suchwunsch einen größeren Rahmen verdient. Suchwunsch – das bedeutet gewöhnlich, daß nach vermißten Menschen geforscht wird. Hier ist es die Suche nach der eigenen Identität. Auch das ist nicht neu in unserer Familien-Geschichte, denn es haben sich im Laufe der Jahrzehnte auch Fragen nach der eigenen Herkunft ergeben, vor allem von „Wolfskindern“, die als vermutlich elternlose, streunende Bettelkinder in Litauen blieben. Tatsächlich konnten einige dieser schwierigen Fälle geklärt werden.

Hier ist es aber anders, denn es steht zuerst einmal gar nicht fest, ob die Frau, die ihre Herkunft sucht, aus einer ostpreußischen Familie stammt. Sie heißt Galina Podistowa, lebt in Königsberg, der Stadt, die sie nur als „Kaliningrad“ kennt. Sie schrieb an uns vor einigen Monaten, und ich möchte ihren übersetzten Brief im Wortlaut wiedergeben:

„Ich bitte Sie um Hilfe! Mein Name ist Erika Pulwintzkiz oder -kitz, bin Jahrgang 1945 oder 1946. Am 21. Dezember 1948 wurde ich zusammen mit anderen Kindern aus dem Lager Nr. 226 in Brandenburg / Deutschland nach Kaliningrad gebracht und bin dort in das Kinderheim der Stadt Slawsk (Heinrichswalde) gekommen. In diesem Kinderheim bekam ich den Namen Irina Pulkowa, * 1946, Eltern unbekannt. 1950 wurde ich adoptiert und erhielt den Nachnamen Mawrina. Vor- und Nachnamen wurden noch mehrfach geändert, zum Schluß hieß ich Galina Wladimirowna. In meiner Familie wurde über das Thema nie gesprochen, aber ich habe es von fremden Leuten erfahren, daß ich adoptiert wurde. Als ich 14 Jahre alt war, habe ich bei meiner Mutter eine Urkunde gefunden, in der ich – außer mit meinem neuen Namen – auch als Erika Pulwintzkiz geführt wurde. Meine Adoptivmutter hat diese Urkunde später vernichtet, da sie Angst hatte, daß ihr Geheimnis an das Licht kommt.

Nach ihrem Tod habe ich zufällig einen Zeitungsausschnitt gelesen, daß damals Kinder aus Deutschland und zwar aus dem Lager Nr. 226 nach Kaliningrad gebracht wurden, und in den Listen habe ich den Namen Pulwintzkiz entdeckt. Später fand ich im Archiv einige Dokumente, die das bestätigten. Leider sind die persönlichen Daten der Kinder aus dem Heim beim Umzug in ein anderes Gebäude verlorengegangen.

Ich weiß leider nicht, wann, woher und warum ich in das Lager Nr. 226 in Brandenburg kam und wer meine Eltern sind!

Vielleicht können Sie mir weiterhelfen oder sagen, wo ich noch suchen kann. Ich lege eine Kopie aus dem Anmeldebuch des Kinderheimes der Stadt Slawsk bei, in dem unter der Nummer 97 eine Erika Pulwintzkiz, Jahrgang 1945, registriert ist, die am 21. Dezember 1948 aus dem Lager Nr. 226 in Brandenburg, Deutschland, kam und am 19. Januar 1950 nach Kaliningrad, Komsomolskaja Straße 15 zur Adoption freigegeben wurde. Tatsächlich stimmen die Adoptionsangaben und die Adresse. Mit freundlichen Grüßen. Galina Podistowa.“

Soweit der Brief der Frau mit dem russischen Namen, die erst spät von ihrer wahren Herkunft erfuhr und hofft, diese mit unserer Hilfe durchleuchten zu können. In einem zwischen ihr und unserer Redaktion – dank Manuela Rosenthal-Kappi in russischer Sprache – geführten Telefongespräch zeigte sich Frau Podistowa sehr glücklich darüber, daß wir uns ihrer Sache annehmen, obgleich wir keinen Zweifel ließen, daß eigentlich kaum Hoffnung besteht, irgendwelche konkreten Hinweise auf ihre Herkunft zu bekommen. Die Schwierigkeiten zeigen sich ja schon in den Anfangszeilen ihres Briefes und steigern sich von Zeile zu Zeile.

Da ist zuerst einmal der Name: Erika Pulwintzkiz oder Pulwinzkitz – schon von ihr selber mit einem Fragezeichen versehen. Der Vorname beweist einwandfrei die deutsche Herkunft. Der Nachname dürfte nicht richtig geschrieben sein, vor allem kann die Endung so nicht stimmen. Er könnte Pulwinskies lauten – dann wiese er auf die Herkunft aus dem nördlichen Ostpreußen hin, wobei auch andere Versionen wie Purwinskies denkbar wären. Pulwinski oder Pulwintzky dagegen könnte masurischer Herkunft sein. Solche Schreibfehler kamen ja damals oft vor, gerade bei Namen von Lagerkindern, die noch nicht sprechen oder ihn nicht richtig angeben konnten, oder in der kyrillischen Umsetzung eine Änderung erfuhren. Das war auch im Lager 226 in Brandenburg der Fall, das elternlose Kinder vor allem aus der russischen Besatzungszone aufnahm. Während die deutschen Kinder, die allein in Ost- und Westpreußen als Waisen oder vermutlich Elternlose zurückgeblieben waren, 1947 im Rahmen der Deportation aller Deutschen aus Ostpreußen in Sondertransporten in die sowjetisch besetzte Zone kamen, wurden zur gleichen Zeit von der russischen Besatzungsmacht in Deutschland Kinder eingesammelt, die keine feste Bleibe hatten. Man brachte sogar Kinder, die von deutschen Familien aus Lagern oder Notunterkünften geholt und bereits in Pflege oder adoptiert waren, in das Sammellager Brandenburg, denn ein Geheimbefehl Stalins lautete: „Kinder, die auf dem Territorium Deutschland ohne entsprechende Dokumente gefunden werden, sollen dem Siegerland unterliegen.“ Auch Säuglinge, die von ihren kranken, hungernden Müttern nicht genährt werden konnten, Kinder aller Altersgruppen, deren Mütter verstorben waren, alleingebliebene Kinder aus Aussiedlertransporten – sie alle kamen in das Lager 226. So muß auch Erika dorthin gekommen sein, als Säugling oder Kleinkind, – wann sie aufgenommen wurde, wer sie dorthin gebracht hatte, steht nirgendwo vermerkt. Selbst wenn hier Angaben bestanden haben, sind sie nicht mehr auffindbar. Frau Podistowa meint, die persönlichen Daten seien in Königsberg beim Umzug verlorengegangen. Tatsächlich wurden die Waisenkinder aus dem Lager Brandenburg, die im ersten Sondertransport 1947 nach Königsberg gebracht wurden, mit einem Begleitpaket ausgestattet, das die vorhandenen Angaben zur Person enthielt: wo und in welchem Alter man es gefunden hatte, ob es Angehörige gehabt hatte, an die es sich erinnern konnte, Größe, Gewicht, besondere Merkmale. Nach der Ankunft in Königsberg gingen diese wichtigen Pakete verloren, entweder im Filtrierungs-Kinderheim Nr. 5 oder sie wurden vom NKWD beschlagnahmt.

Auf dem Königsberger Hauptbahnhof kam am 13. Oktober 1947 der erste von sechs Sonderzügen an, der vom russischen Chef des Lagers 226, Oberst Trunin, vorbereitet und abgeschickt worden war. Vier Tage waren die Kinder unterwegs gewesen, eingepfercht in Abteile, deren Fenster nicht geöffnet werden durften. Etwa drei Dutzend frierende, hungernde Kinder standen still auf dem Bahnsteig, hielten sich paarweise an den Händen und warteten auf das weitere Geschehen. Auf Kommando des begleitenden Majors marschierte die kleine Kolonne durch die in Trümmern liegende Stadt zu einem Auffanglager. Diesem ersten Transport folgten noch fünf weitere, mit einem der letzten kam die kleine Erika nach Königsberg und wurde von dort in das Kinderheim Heinrichswalde gebracht. Daß sie keine Erinnerungen an diese Vorgänge hat, ist verständlich, das Kind, unterernährt und kleinwüchsig wie alle Lagerkinder, war ja damals kaum drei Jahre. Und das ist auch gut so, denn die Zustände in den russischen Kinderlagern müssen furchtbar gewesen sein, wie man dem Bericht eines Zeitzeugen, des Russen Anatolij Perschikow, entnehmen kann, der als Kind diese Lager erlebt hat.

Die materielle und wirtschaftliche Lage in den 17 Kinderheimen der neu gegründeten „Kaliningradskaja oblast“ sowie deren Ausstattung zu Beginn des Schuljahres 1947/48 war deprimierend. Und das ist noch untertrieben. In einem der ersten Berichte der Gebietskonferenz über die Volksbildung und den Stand der Arbeit in den Kinderheimen des Königsberger Gebiets heißt es, daß diese nur langsam unter den spezifischen Bedingungen erfolge, die sich stark von denen in anderen Gebieten der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) unterscheide. Die Heime mußten nicht nur eingerichtet, sondern zuerst einmal gebaut werden, es gab weder geeignete Gebäude noch Mobiliar, das für Kinder geeignet gewesen wäre, erst recht kein Personal für Kinderheime. Deshalb wurden Erzieher, pädagogische Leiter und Direktoren zunächst zufällig ausgewählt. Perschikow beziffert die Zahl der deutschen Waisenkinder mit 6000, die in eilig organisierte Heime und Unterkünfte gebracht werden mußten. Als im Königsberger Gebiet auch russische Waisenkinder aufgenommen wurden, die ihre Eltern im Krieg verloren hatten, verschlimmerte sich die Situation noch.

Die Armut in den Waisenhäusern ist gar nicht zu beschreiben. Schon allein das Äußere der Kinder ließ die Menschen erschrecken, wenn sie sahen, wie die Kleinen, sich an den Händen haltend, zu zweit in die Schule gingen, ungewaschen, in zerrissenen Mänteln, nur mit Schlappen an den Füßen, die sie mit Lappen umwickelt hatten. Im Spätsommer 1948 konnte von 1477 Waisenkindern rund ein Fünftel nicht die Schule besuchen, weil Kleidung und Schuhe fehlten. Der Gesundheitszustand der Lagerkinder war nach den Ergebnissen einer Spezialuntersuchung schlechter als jedes zulässige Mindestmaß, fast alle Kinder zeigten ein krankes oder erschöpftes Aussehen. Die geschwächten Körper hatten keine Abwehrkräfte gegen Infektionskrankheiten wie Malaria oder Tuberkulose – rund 30 Prozent der Lagerkinder waren tuberkuloseinfiziert. Bindehautentzündungen hatten alle. Krätze und Kopfläuse waren lange Zeit in allen Kinderheimen verbreitet, deshalb wurden Jungen wie Mädchen von der ersten bis zur achten Klasse kahl geschoren. Aufgrund dieser katastrophalen Zustände verließen Erzieher und Direktoren sehr oft die Heime, in manchen wechselte innerhalb von zwei Jahren bis zu sechsmal die Leitung. Von 113 Erziehern hatte 1949 nicht ein einziger eine fachliche Ausbildung.

Auch im Kinderheim Heinrichswalde, in das die kleine Erika kam, herrschten ähnlich deprimierende Zustände. Eine Erzieherin war bis dahin Rechnungsführerin einer Kolchose gewesen, eine andere hatte nach verbüßter Haftstrafe als Laborantin in einer Milchfabrik gearbeitet, ehe sie als pädagogische Kraft nach Heinrichswalde kam. Hier ging wahrscheinlich alles drunter und drüber. Auf den Sitzungen der Kommunistischen Partei von Heinrichswalde wurde der Direktor des Kinderheims mehrfach darauf hingewiesen, daß die Kinder über längere Zeit sich selbst überlassen waren. Die Freizeit der „Schützlinge“ war überhaupt nicht organisiert, die Kinder stromerten durch den Ort, verwahrlost, schlampig, verübten in Gruppen Diebstähle. Ein Vorfall, der für eines der größeren ehemaligen Lagerkinder unvergessen blieb, ist bezeichnend für die „pädagogische“ Erziehung in Heinrichswalde. Zu dem morgendlichen Appell anläßlich des 30. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution mußten alle 119 Zöglinge und das gesamte pädagogische Kollektiv antreten. Feierlich wurde erklärt, daß das Territorium Ostpreußen ursprünglich slawischer Boden und nun zu seinem wahren Eigentümer zurückgekehrt sei und daß die neuen Seiten der Geschichte dieses Landes hell und voller Freuden sein würden … Das glaubten auch die meisten Kinder, als anschließend der Direktor befahl, daß diejenigen vortreten sollten, die schlechtes Schuhwerk besäßen. Gut 100 Kinder traten vor in der Hoffnung, daß ihre Schuhe nun endlich repariert würden oder daß sie sogar neue bekämen. Sie war trügerisch: Am nächsten Tag bekamen alle eine Rüge wegen „nachlässiger Haltung gegenüber privatem Eigentum“. Und in den Festtütchen von 100 „schlampigen“ Kindern befanden sich weder Süßigkeiten noch Obst wie in denen der restlichen 19 Zöglinge, die es anscheinend nicht gewagt hatten, vorzutreten.

Für die kleine Erika dauert der Aufenthalt im Lager Heinrichswalde, wo sie in „Irina Pulkowa“ umbenannt wurde, zum Glück nicht lange, denn sie wurde bereits 1950 adoptiert. Sie erkannte die neuen Eltern als solche an, obgleich sie ja später von ihrer Adoption erfuhr, die dann durch die von ihr gefundenen Dokumente bestätigt wurde. Nach dem Tod der Adoptivmutter wuchs der Wunsch, nach ihrer wahren Herkunft zu suchen. Aber erst jetzt wagte die nunmehr über 60jährige Frau, sich bei uns zu melden. Wie können wir ihr helfen? Vielleicht gibt es noch Listen der im Lager Brandenburg registrierten Kinder mit Hinweisen, wer Erika dort abgegeben hat. Das Mädchen ist nach Kriegsende geboren, vielleicht ist es das Kind einer an Hunger und Seuchen verstorbenen Flüchtlingsfrau, die nicht nur aus Ostpreußen, sondern auch aus anderen Ostgebieten stammen könnte. Aber auch das ist nicht gewiß, es könnte auch ein Kind sein, das irgendwo in Norddeutschland geboren und aus Verzweiflung im Lager abgegeben wurde – es war eine wirre Zeit voller Not und Elend, für viele ohne Obdach. Ist Erika 1946 geboren, könnte es auch ein Besatzungskind sein – es gibt so viele Möglichkeiten, aber alles sind nur dünne Fäden, sie bieten keinen Festpunkt.

Es bleibt der Name Erika Pulwintzkiz – und da setzt meine Hoffnung ein. Vielleicht erinnert sich jemand von unseren Leserinnen und Lesern an Verwandte, Bekannte, Nachbarn, Lagergefährten, die einen Namen tragen, der so oder ähnlich lauten könnte. An ein Kind Erika, das nach dem Krieg geboren und weggegeben oder weggenommen wurde. Vielleicht werden diese Zeilen auch von Frauen und Männern gelesen, die als Kinder im Lager 226 in Brandenburg waren und nicht nach Rußland deportiert wurden, oder die dort tätig waren. Wenn es uns gelingen würde, wenigstens ein paar Schritte weiter zu kommen, wäre das schon ein Erfolg. Die Frau, die heute den Namen Galina Podistowa trägt, würde sich freuen.

Aber, man kann es ja nicht wissen: Vielleicht gibt es doch wieder einmal ein ganz großes Familienwunder? Es ist ja Weihnachten!

Eure Ruth Geede


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren