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05.01.08 / Das Trauma der Ukraine / Kiews neue Geschichtspolitik: Erinnerung an die Millionen Opfer der Hungersnot von 1932/1933

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 01-08 vom 05. Januar 2008

Das Trauma der Ukraine
Kiews neue Geschichtspolitik: Erinnerung an die Millionen Opfer der Hungersnot von 1932/1933
von Martin Schmidt

Ende November wurde in Kiew nach zweijährigem politischen Schwebezustand wieder eine Regierungskoalition geschmiedet. Sie trägt erneut das orangene Banner, versteht sich also im Unterschied zur russophilen Opposition als pro-westlich und eher rußlandkritisch und setzt sich aus dem „Block Julia Timoschenko“ und dem Bündnis „Unsere Ukraine“ zusammen. Da die Mehrheit dieser Koalition äußerst knapp ist, könnte sie schon bald ins Straucheln geraten und die innenpolitische Situation wieder verunsichern.

Für ein von tiefen geistig-materiellen Umbrüchen gezeichnetes, extrem heterogenes Land wie die Ukraine ist all das kaum verwunderlich. Die innenpolitischen Grabenkämpfe spiegeln den tiefen Riß wider, der die national gesinnte Westukraine und zunehmend auch die Mitte des Landes vom russisch geprägten Osten scheidet. Daß die auf Eigenständigkeit vom übermächtigen „Großen Bruder“ Rußland bedachten Kräfte die Meinungsführerschaft innehaben, zeigen nicht nur die Wahlergebnisse, sondern in weit größerem Maße die – politisch geförderte – Veränderung der Sprachenverhältnisse zugunsten des Ukrainischen und zu Lasten des Russischen sowie die geschichtspolitische Debatte um den sogenannten „Holodomor“. Der Begriff leitet sich von „holod“ = Hunger und und „mor“ = Seuche ab und bezeichnet den millionenfachen Hungertod, der dem Höhepunkt der stalinistischen Zwangskollektivierungen in den Jahren 1932/33 folgte und in der Ukraine einen genozidartigen Charakter hatte.

Im November erinnerte die Ukraine an die Opfer der verheerenden Ereignisse, deren Gesamtzahl in der Sowjetunion meist mit siebeneinhalb Millionen, manchmal aber auch mit zehn Millionen angegeben wird. Mindestens ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung kam durch die von den Moskauer Bolschewiki wahrscheinlich bewußt hervorgerufene oder zumindest gesteuerte Hungersnot ums Leben. Sie sollte den Widerstand der dortigen Bauern gegen die Abschaffung bäuerlichen Privateigentums brechen. Russische Historiker betonen dagegen die vorangegangenen schlechten Ernten als wichtigste Ursache.

Fest steht, daß Stalin seit Einführung des ersten sowjetischen Fünfjahresplanes im Oktober 1928 und der anschließenden Einleitung rücksichtsloser Kollektivierungsmaßnahmen die Vernichtung der großbäuerlichen Schicht, der sogenannten „Kulaken“, anstrebte. Diese gab es in der fruchtbaren Ukraine mit ihren Schwarzerdeböden in besonders hoher Zahl. Sie mußten überhöhte Steuern zahlen sowie „freiwillige“ Selbstverpflichtungen zur Ablieferung größerer Getreidemengen leisten und erlitten bei Nichterfüllung brutale Strafen einschließlich der Konfiszierung von Haus und Hof, Verbannung oder mehrjährige Gefängnisaufenthalte. Da nie ganz klar war, wer zur sozialen Schicht der Kulaken zu zählen war und wer nicht, führten all diese Maßnahmen zu einer allgemeinen Verunsicherung auch unter den Mittel- und Kleinbauern. Als die Notlage 1932/33 ihren katastrophalen Höhepunkt erreichte, exportierte die UdSSR dennoch größere Mengen Getreide zwecks Devisenbeschaffung ins Ausland, und in den Getreidespeichern des Landes stapelte sich das Korn. Strenge Kontrollen unterbanden die Versorgung ukrainischer Hungernder oder deren vorübergehende Umsiedlung in die besser versorgten Städte beziehungsweise weniger betroffene Landesteile. Ein von Stalin eingeführtes System von Passierscheinen sorgte dafür, daß die ukrainischen Bauern ihre Heimatdörfer nicht verlassen konnten, um anderswo Lebensmittel aufzutreiben. Es gab nicht wenige Fälle von Kannibalismus, und schätzungsweise 11000 ukrainische Dörfer mitsamt ihren Bewohnern gingen zugrunde.

Professor James Mace, der Leiter einer in den 80er Jahren in den USA im Regierungsauftrag mit dem Thema beschäftigten Forschungsgruppe, fällte ein klares Urteil: „Ich bin überzeugt davon, daß, um die Macht in Stalins Händen zu zentralisieren, sowohl die ukrainische Bauernschaft als auch die ukrainische Intelligenzija, die ukrainische Sprache und Geschichte – also praktisch die Ukraine selbst – vernichtet werden sollte.“ Und Vassilij Marotschko, Historiker am Zentrum zur Erforschung des Genozids bei der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften in Kiew, betonte: „Ob es nun ein Sozio- oder ein Genozid war, das ist für mich ein Spiel mit der Terminologie, an dem sich einige ukrainische und westeuropäische Historiker gerne beteiligen! – Aber wenn ich diese verehrten Kollegen frage: ‚Welche Nationalität hatten denn die Bauern in der Ukraine?‘, bleiben sie stumm ... Der Anteil der ethnischen Ukrainer unter den Bauern betrug knapp 87 Prozent! – Gegen wen also ... hat man den Hunger eingesetzt?! – Dann: Die Korrespondenz zwischen Kaganowitsch und Stalin: Da fällt andauernd das Wort ‚Ukraine‘‚ ,ukrainisch‘. Die ethnische Komponente wird dort stets betont. An keiner Stelle heißt es: ‚Die sozialistische Ukraine‘ oder die ‚sowjetische Ukraine‘. Vielmehr liest man: ‚Die ukrainische Frage muß gelöst werden.‘“ Ganz anders sieht die russische Bewertung aus, für die das Zitat Gennadij Bordjugows steht: „Kein Forscher hat bis jetzt dokumentarische Beweise des gezielten Genozids eben des ukrainischen Volkes durch die Sowjetmacht vorgelegt. Um diese Frage entstand in letzter Zeit eine regelrechte Hysterie. Diese Hysterie hat die ukrainische Gesellschaft gespalten. Ihre Erklärungen zum Genozid zeugen von der Schwäche der heutigen ukrainischen Regierung.“    

Seitdem Präsident Viktor Juschtschenko kurz nach seinem Amtsantritt den 25. November als nationalen Gedenktag einführte, fordern immer mehr Ukrainer eine internationale Anerkennung des „Holodomor“ als Völkermord. Sie wollen endlich eine historische Klärung des traumatischen Geschehens und eine angemessene Würdigung der Opfer. Außenminister Tarasjuk rief am 25. September letzten Jahres die Uno-Generalversammlung auf, die große Hungersnot als Genozid anzuerkennen, den das Sowjetregime bewußt organisiert habe, um die Grundlage des ukrainischen Volkes – seine Bauernschaft – zu vernichten. Der US-amerikanische Kongreß erkannte die Katastrophe von 1932/33 bereits 1988 als Genozid an, weitere Länder wie Österreich, Litauen, Kanada oder Argentinien folgten. Der Europarat verurteilte die Ereignisse am 26. Januar 2005 als „Verbrechen des kommunistischen Regimes“, und der polnische Senat verabschiedete am 16. März 2006 eine „Resolution über den Jahrestag der Hungersnot in der Ukraine“, mit der Polen seine Solidarität mit all jenen bekundete, die für eine Anerkennung der Hungersnot als Genozid eintreten.

Manchen Politikern in der Ukraine und anderswo dürfte es auch um eine moralisch-politische Schwächung des inzwischen wieder expandierenden Rußlands gehen, wenn sie diesen „Völkermord durch Aushungerung“ als solchen benennen.


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