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05.01.08 / Stadt im Fluß / Liverpool: Englands einstiges Schmuddelkind wird Kulturhauptstadt Europas

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 01-08 vom 05. Januar 2008

Stadt im Fluß
Liverpool: Englands einstiges Schmuddelkind wird Kulturhauptstadt Europas
von Robert B. Fishman

Nach Jahrzehnten des Niedergangs wird Liverpool im Nordwesten Englands 2008 Europäische Kulturhauptstadt. In der ganzen Stadt wird gebaut und gebuddelt. Eröffnet wird das Programm am 12. Januar 2008 mit einem Fest der Kreativität. Der so unschuldig träge dahinfließende Mersey hat seine Launen – vor allem wenn draußen auf der Irischen See ein Sturm tobt und die Springflut das Wasser bis zu zehn Meter hoch landeinwärts drückt. Kaum eine halbe Stunde dauert die Überfahrt vom Industrievorort Birkenhead zum Fähranleger in der Liverpooler Innenstadt. An Bord: Anwohner, die mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, Ausflügler, Touristen. An der Reling lehnt Peter Murray. Auf dem Kopf trägt er die blaue Mütze seines Arbeitgebers. „Letzten Sommer hatte wir sogar Peter Crouch hier“, freut sich der Matrose. Schon der Gedanke läßt sein ernstes Gesicht strahlen: Der Starspieler des FC Liverpool posierte zu Fotoaufnahmen auf der Brücke der „Royal Iris of the Mersey“ vor Liverpools Schokoladenseite.

Aus dem Dunst am Nord-ufer des Stroms steigen die beiden Türme des Royal Liver Buildings und der Bau der Hafenverwaltung mit seiner schwarzen Kuppel auf. Zu Liverpools Glanzzeit als wichtigster Hafen des britischen Empires verewigten sich im späten 19. Jahrhundert die großen Reeder und Versicherungen an der Waterfront mit mächtigen Palästen: Reich verzierte Bürohochhäuser im viktorianischen und edwardianischen Stil. Auf den Turmspitzen des Royal Liver Buildings, das einer Versicherung gehört, sitzen zwei große schwarze Vögel: Die Liver Birds. Die Ratsherren hatten als Ausdruck ihrer Macht und ihres Reichtums bei einem Bildhauer zwei Adler bestellt. Der Mann wußte wohl nicht so genau, wie ein echter Adler aussieht. So schuf er eine krude Mischung aus Kormoran und Greifvogel. Die Auftraggeber wußten es nicht besser, ließen den Künstler gewähren und präsentierten stolz das neue Wappentier der reichen Handelsstadt.

Liverpools Waterfront zählt wie die ganze Innenstadt „als Zeugnis des frühen Welthandels im Britischen Empire“ seit 2004 zum Weltkulturerbe der Vereinten Nationen. Reich geworden ist die Stadt im 17. und 18. Jahrhundert mit Geschäften, an die sich heute niemand mehr gerne erinnert: den Sklavenhandel. Vom Liverpooler Hafen, damals einem der größten der Welt, fuhren die Schiffe beladen mit Gewehren, Kanonen, Schnaps, Glasperlen und anderen Waren nach Westafrika. Dort tauschten die Händler ihre Ladung gegen Sklaven, die sie nach Amerika verfrachteten. Erst vor 200 Jahren verbot Großbritannien den Sklavenhandel.

Zum Uno-Gedenktag für die Opfer der Sklaverei hat die Stadt im  August ein neues Museum über die Geschichte der Sklaverei errichtet, das größte seiner Art in Europa und ein weiterer Baustein in Großbritanniens reichster Museumslandschaft außerhalb der Hauptstadt London. Schon jetzt locken viele Liverpooler Museen wie die Kunstgalerie Tate – ein Ableger der berühmten Tate Modern – mit freiem Eintritt und einem guten Angebot Besucher an. Geschichte, Politik, Stimmungen, Trends, Soziales und Kunst mischen sich in Liverpool immer wieder neu. Keine britische Stadt außerhalb Londons gebiert so viele Ideen und so viele Kreative wie die Stadt des permanenten Aufbruchs und Wandels am Mersey-Fluß.

In den zahllosen Bars und Kneipen spielen laufend heimische und auswärtige Musiker – mal organisiert, mal ganz spontan zu einer Session, die aus einer Stimmung heraus entsteht. Im Hee Bee Jee Bees an der angesagten Slater Street tritt fast jeden Abend eine Band auf. Besitzer Graham Clarke hat jetzt eine zweite Bar aufgemacht, das Jacaranda. Für rund 1,5 Millionen Pfund hat er den völlig heruntergekommenen Backsteinbau wieder hergerichtet.

Mehr als zwei Jahrhunderte lang war Liverpool der Schmelztiegel Europas. Millionen kamen hier an, um ein Auswandererschiff in die neue Welt zu besteigen. Viele, die auswandern wollten, sind in Liverpool hängen geblieben.

Rund eine Milliarde Pfund geben Touristen jedes Jahr in Liverpool aus. Die meisten Besucher kommen wegen der Beatles.  Sie buchen eine „Magic Mistery Tour“ – eine Rundfahrt auf den Spuren der Fabulous Four, gehen in den originalgetreu nachgebauten Cavern Club, in dem die noch unbekannten Beatles Ende der 50er zur Mittagspause für die Geschäftsleute aus den angrenzenden Lagern, Läden und Büros aufspielten oder in das neue Beatles-Museum in den Albert Docks. Originalgetreu sind hier Clubs, Keller, Konzerträume bis auf die Küchenspüle und die Kasse genau nachgebaut. Im schlicht weißen John-Lennon-Gedenkzimmer steht John Lennons Gitarre. Auf dem weißen Flügel liegt seine berühmte, runde Brille. Vom Band läuft leise „Imagine“. Mehr nicht.

Zu Rory Best im Vorort West Derby verirren sich die wenigsten Touristen. Hier führt Pete Bests jüngerer Bruder in die Tiefen der frühen Beatles-Geschichte. Pete war Ende der 50er Jahre Schlagzeuger der jungen Beatles. Als kaum jemand mehr einen Penny auf die Combo gewettet hätte, gab ihr Pete und Rorys Mutter Mo in ihrem Casbah Club eine zweite Chance – zu Recht.

Wenn die Beatles auftraten, war der Laden rappelvoll. In einem dunklen, winzigen Kellerraum von höchstens 30 Quadratmetern spielten die Bands. Wer aufs Klo mußte, wurde über die Köpfe der anderen Besucher unter der knapp zwei Meter hohen Decke durchgereicht, erzählt Rory. Zu Fuß war kein Durchkommen.

Rory hat seine Erinnerungen zum Beruf gemacht. Er lebt von seinen ganz persönlichen Führungen durch seine eigene Geschichte und die der Beatles. An der ehemaligen Kaffeetheke verkauft er Besuchern Becher und T-Shirts mit Beatles-Aufdrucken und erzählt Anekdoten.

Phil Hughes mag die Beatles, weil hinter fast jedem Satz in ihren Liedern eine Liverpooler Erinnerung steckt. Die „Strawberry Fields“ waren ein zum Waisenhaus umgebauter Herrensitz mit einem weitläufigen Park, in dem die Beatles als Kinder Cowboy und Indianer spielten und später Parties feierten. „strawberryfield forever … nothing is  for real …“, singen sie, „gar nichts ist wahr“, und träumen von der Unbeschwertheit ihrer Kindheitsphantasien, als man „ein Drachen, ein Ritter oder ein Flugzeug“ sein konnte und alles war gut. 

1996 ließ Ex-Beatle Paul McCartney die Schule, die er als Kind selbst besucht hatte, zum Liverpool Institute for Performing Arts LIPA umbauen. Weltweit einmalig verbindet das LIPA eine solide betriebswirtschaftliche mit der künstlerischen Ausbildung und vermittelt dazu das nötige Marketingwissen. Der Erfolg gibt dem Institut Recht. Angeblich finden 90 Prozent der Absolventen anschließend eine Stelle.

Nach dem Studium können sich die Absolventen auf ein breites Netzwerk stützen. Vergil Sharkya zum Beispiel hat Freunde und Kollegen auf der ganzen Welt, die mit ihm zusammen am LIPA studiert haben. „Jederzeit“ kann er sie um Rat fragen und Tips für die Suche nach Auftraggebern bekommen.

Der Österreicher  baut zusammen mit Stefan Kazzassoglou, ebenfalls Absolvent der LIPA, in einem ehemaligen Club ein achteckiges Spezialtonstudio aus Holz und Sand, so daß sie es jederzeit wieder abmontieren und woanders wieder aufstellen können – so eine Art Modell der Stadt Liverpool: immer im Fluß und jederzeit bereit, neue Impulse aufzugreifen und an einer anderen Stelle neu anzufangen.

Foto: Liverpool: Blick auf das Royal Liver Buildung und das Hafenamt


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