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12.01.08 / »Ich helfe, wo ich kann« / Der vor 150 Jahren geborene Heinrich Zille zeigte wie kein zweiter das Leben der kleinen Leute in Berlin

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 02-08 vom 12. Januar 2008

»Ich helfe, wo ich kann«
Der vor 150 Jahren geborene Heinrich Zille zeigte wie kein zweiter das Leben der kleinen Leute in Berlin
von Silke Osman

Der Maler Max Liebermann, der als erster die künstlerische Originalität Heinrich Zilles erkannte, fragte diesen einmal: „Verkaufen Sie? Sie müssen doch mächtig Geld machen!“ – „Nicht wie Sie bei den Reichen“, antwortete Zille. „Ich verkaufe bloß an kleine Leute. Die können nicht Tausende zahlen.“ Liebermann: „Zille, det is schön von Ihnen!“

Zille schwieg darauf eine Weile und sagte dann: „Ach, Herr Professor, die Leinwand und die Ölfarbe achte ich viel zu hoch. Es malen schon zu viele Leute in Öl. Ich kritzele lieber auf Papier.“ Liebermann: „Na, denn kleben Sie doch Ihre Zeichnungen auf Pappe und schmieren Lack darüber. Dann kriegen Sie mehr Geld dafür.“ – „Ich bleib aber lieber bei meinem Kritzeln“, schloß Zille das Gespräch.

Eine Anekdote, die viel offenbart vom Wesen des Mannes, dessen Name so eng mit Berlin verbunden ist, daß man sich die typische „Berliner Göre“ nur noch so vorstellen kann, wie er sie auf Papier gekritzelt hat. Heinrich Zille stand auf der Seite der „kleinen Leute“, kannte das „Milljöh“ von Kindheit an. Und auch wenn aus dem „Milljöh“ längst das Milieu geworden ist, wenn die Berliner Gören nicht immer nur noch blauäugig und blond sind, so sind vor dem Hintergrund der brennenden sozialen Fragen der Gegenwart seine Arbeiten durchaus noch aktuell.

Parteipolitisch ließ Heinrich Zille sich nicht in eine Ecke drängen und betonte mehrmals: „Ich will der Politik nicht angehören. Ich helfe, wo ich kann, der Armut vor allem.“ Und: „Eigentlich stehe ich abseits – ich gebe Hungernden, Darbenden, die ich kenne. Ich habe mit meinen Sprüchen und Bildern vielleicht etwas getan, vielleicht. Aber wenn ich helfen kann, tue ich es am liebsten in den hungernden Mund – gleich ...“ Man fühlt sich an den Ausspruch von Käthe Kollwitz erinnert: „Ich will wirken in dieser Zeit ...“

Die Königsbergerin erkannte, daß es weitaus mehr als „Kritzeleien auf Papier“ waren, die Heinrich Zille zustande brachte. Auf der Feier zu seinem 70. Geburtstag äußerte sie in einem Gespräch, es gebe „mehr als einen Zille“. Einmal den typischen Witzblattzeichner, zum anderen den Tendenzzeichner. „Dann gibt es aber noch den dritten Zille. Und dieser ist mir der liebste: Der ist weder Humorist für Witzblätter noch Satiriker. Er ist restlos Künstler. Ein paar Linien, ein paar Striche, ein wenig Farbe mitunter – es sind Meisterwerke.“

Dabei hatte Heinrich Zille erst relativ spät mit seinem künstlerischen Wirken Aufmerksamkeit errungen, schließlich war er bereits über 40 Jahre alt, als seine Arbeiten zum ersten Mal in der Berliner Sezession ausgestellt wurden. Daß er 1924 auf Vorschlag von Max Liebermann in die Preußische Akademie der Künste berufen und gleichzeitig zum Professor ernannt werden würde, hatte man ihm ganz gewiß nicht an der Wiege gesungen. Der am 10. Januar 1858 als Sohn eines Uhrmachers in Radeburg bei Dresden Geborene siedelte mit seiner Familie 1867 nach Berlin über. Die Zilles lebten in der Nähe des Schlesischen Bahnhofs in einer „einfenstrigen Stube und Küche, deren erste Einrichtung aus einem mit Bandeisen beschlagenen Koffer, der als Tisch diente, einem eisernen Ofen, einem Schemel und wenigen Tassen ohne Henkel bestand“, weiß sein Urenkel Hein-Jörg Preetz-Zille zu berichten. Als der Vater arbeitslos wurde, hielt man sich mit Heimarbeit über Wasser und fertigte Tintenwischer oder Nadelkissen an. „Heinrich Zille vertrieb diese Kleinigkeiten an die Posamentengeschäfte und Schreibwarenhandlungen. Auch handelte er mit Kommißbrot aus der Alexander-Kaserne, war Laufbursche in einem Tingeltangel, führte Fremde durch die Berliner Sehenswürdigkeiten und verkaufte Programmzettel vor dem Wallner-Theater hinter dem Alexanderplatz.“

Schon früh regte sich Zilles Drang zu zeichnen. Neben der Schule nahm er Privatunterricht bei dem Zeichenlehrer Spanner, und neben der Ausbildung als Lithograph, die er gegen den Willen seiner Eltern aufgenommen hatte, ließ er sich als Abendschüler an der Königlichen Kunstschule von Theodor Hosemann unterweisen. Hosemann, der Meister Altberliner Malerei, war es auch, der Zille „auf die richtige Schiene schob“. Er gab seinem Schüler den Rat: „Gehen Sie lieber auf die Straße hinaus, ins Freie, beobachten Sie selber, das ist besser als nachmachen.“ Und Zille ging ...

Für den Lebensunterhalt arbeitete Zille schließlich bei der Photographischen Gesellschaft und war bald firm in allen grafischen Techniken. Als er 1907 nach 30 Jahren entlassen wurde, ließ er sich als freischaffender Künstler nieder. Seine Zeichnungen wurden im „Simplicissimus“, in der Zeitschrift „Jugend“ und in den „Lustigen Blättern“ veröffentlicht, auch erschienen Bücher mit Zilles „Kritzeleien“. Zille wurde populär. Doch als er am 9. August 1929 starb, erhielt er zwar ein Ehrengrab auf dem Stahnsdorfer Friedhof, eine dauerhafte Gedenkstätte war er der Stadt nicht wert. Kurt Tucholsky klagte: „Ist es zu glauben, daß die Stadt für diesen Mann, der die reinste Inkarnation Berlins verkörpert, nichts, aber auch nicht das leiseste tut?“ Erst 2002 wurde durch die 1999 vom Urenkel Hein-Jörg Preetz-Zille gegründete Heinrich-Zille-Gesellschaft e. V.  für den Zeichner, Graphiker und Fotografen in Berlin-Mitte ein Museum errichtet (Propststraße 11; montags bis sonntags 11 bis 18 Uhr, Eintritt 4 / 3 Euro).

Immer wieder gibt es jetzt auch Bücher mit Zeichnungen Zilles. In einer Neuauflage ist im Eulenspiegel Verlag, Berlin, der Band „Pinselheinrich malt Dir“ (Hrsg. Matthias Flügge, 160 Seiten, geb. mit farbigen Schutzumschlag, 9,90 Euro) erschienen. Dies und nicht zuletzt auch die beiden Ausstellungen in Berlin zum 150. Geburtstag des Künstlers werden dazu beitragen, Zilles Werk, das „zu den bekanntesten Unbekannten der jüngeren Kunstgeschichte“ (Matthias Flügge) zählt, wieder mehr in den Blickpunkt zu rücken.

 

Die Akademie der Künste würdigt Heinrich Zille

Anläßlich des 150. Geburtstages des Berliner Zeichners, Grafikers und Fotografen Heinrich Zille zeigt die Akademie der Künste in Zusammenarbeit mit der Stiftung Stadtmuseum Berlin die Ausstellung „Kinder der Straße“. Der Titel ist Zilles erster Buchveröffentlichung entliehen, die 1908 erschien. Er ist nicht motivisch, sondern als Metapher zu verstehen für die Heimatlosen und Ausgegrenzten im Berlin um 1900, einer rasant wachsenden Stadt mit enormen sozialen Verwerfungen.

Die Ausstellung bringt erstmals das zeichnerische und grafische mit dem fotografischen Werk in einen Zusammenhang. Am Pariser Platz sind die Fotografien – vor allem in Abzügen des Künstlers Thomas Struth – und bis 1914 entstandene Blätter zu sehen.

Im Ephraim-Palais werden ausgewählte Beispiele des Werks der späteren Jahre gezeigt.

„Kinder der Straße“ legt den sozialen Kern von Zilles Arbeit frei, ohne seine humoristische Seite außer Acht zu lassen. Gerade vor dem Hintergrund der sozialen Fragen der Gegenwart erhalten Zilles Werk und das Engagement des Akademie-Mitglieds für Arme, Obdachlose und Kinder ihre Aktualität. Zilles kritischer Blick auf die Brennpunkte gesellschaftlicher Entwicklungen im Berlin um 1900 stellt nicht zuletzt  auch Parallelen zur Situation in vielen Stadtteilen heute her.

Die Ausstellung „Heinrich Zille. Kinder der Straße, Zeichnung Grafik Fotografie“ der Akademie der Künste in Zusammenarbeit mit der Stiftung Stadtmuseum Berlin ist in der Akademie der Künste, Pariser Platz 4, Berlin-Mitte, bis zum 24. März, im Ephraim-Palais, Poststraße 16, Berlin-Mitte, bis 2. März zu sehen.

Foto: Kindermund tut’s kund: „Vater wird sich frei’n, wenn er aus’t Zuchthaus kommt, det wir schon so ville sind.“


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