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19.01.08 / Unter den Fittichen des »Blauen Vogel« / Erinnerungen an ein russisch-deutsches Theater der 1920er Jahre in Berlin

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-08 vom 19. Januar 2008

Unter den Fittichen des »Blauen Vogel«
Erinnerungen an ein russisch-deutsches Theater der 1920er Jahre in Berlin
von Wolf Oschlies

Als Rußland vor 90 Jahren von einem bolschewistischen Umsturz erschüttert wurde, der später jahrzehntelang in Osteuropa als „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ gefeiert werden mußte, sind etwa 2,5 Millionen Menschen vor Lenins Putsch geflohen. Rund 700000 landeten in Deutschland, allein in Berlin lebten 1923 bereits 300000. Charlottenburg wurde ob der Fülle seiner russischen Einwohner bald nur noch „Charlottengrad“ genannt, und das war erst der Anfang, dessen Fortgang ein junger russischer Maler 1923 so beschrieb: „Man geht im Westen spazieren, und es flimmert einem vor Augen vor lauter russischen Aushängen, Vitrinen, Plakaten und Reklamen. Eine friedliche Eroberung! Die Deutschen schert es nicht, sie haben sich daran gewöhnt.“

In dem „vollkommen unnützen Berlin“, wie Boris Pasternak 1919 urteilte, etablierte sich ein kulturelles Klein-Rußland, repräsentiert nicht mehr vom Doppeladler, sondern von „Sinjaja ptica“, dem Theater „Blauer Vogel“. Gegründet hatte es Ende 1921 der Schauspieler Jushny, einst gefeierter Bühnenstar in Rußland, der von sich sagte, er sei „gestorben 1920 in Moskau und geboren 1921 in Berlin“. Berlin hatte ihm die Chance gegeben, seine Vorstellungen von einer in Ausstattung, Repertoire und Darstellung „prallen“ Kleinkunstbühne zu verwirklichen, eine Mischung aus „russischer Seele“, deutschem Standort und nie erlebter Farbenpracht auf der Bühne, die bei Zuschauern und Kritik ungeheuer einschlug. Und Jushny machte sich den hintergründigen Scherz, den damals erbittert geführten Richtungsstreit der drei russischen Theater-Schulen – Stanislavskis „naturalistisches“, Mejercholds „stilistisches“ und Tairows „synthetisches“ Theater – dadurch zu veralbern, daß er aus allen dreien Elemente „borgte“ und sie zum unverwechselbaren „Blauer Vogel“-Stil vermengte. Daß dieser zur nüchternen „neuen Sachlichkeit“ deutscher Theater ebenfalls maximal kontrastierte, konnte seine Beliebtheit nur steigern.

Und wie hatte alles angefangen? In der „Weinstube Lantzsch“, einer bei Russen beliebten Künstlerkneipe, radebrechte die Malerin Nata-lija Gontscharowa eines Abends den folgenschweren Satz: „Wir müssen machen gnädiges Kabarett.“ Sie meinte ein „vornehmes“ Kabarett, kein Tingeltangel, auch keine politische Agitationsbühne. So wurde die Idee des „Blauen Vogel“ geboren. In Schöneberg fand sich ein verkommenes Hinterhofkino, aus dem sehr bald ein hübsches Theater mit zwei Rängen und 200 Parkettplätzen wurde. Die Faszination des Programms im berühmt temporeichen Szenenwechsel lag in seiner rasanten Vielgestaltigkeit: schwermütige Lieder und wilde Tänze aus Rußland, Gaunerlieder aus dem Kaukasus, Wiener Kitschszenen, parodistische Nummern über deutsches Kneipen- oder amerikanisches Bürotreiben oder gleich buntestes Chaos, als „russisches Spielschächtelchen“ präsentiert.

Gesungen und gespielt wurde oft auf russisch, nicht selten aber auch in einem „köstlichen Deutsch, das so schmeckt, als ob es lange in russischer Beize gelegen hätte“, wie der geistvolle Feuilletonist Alfred Polgar notierte. Besonders Jushnys witzige Conférencen gewannen durch ihr russisch akzentuiertes Deutsch zusätzlichen Reiz: Er lehrte die Zuschauer, „jeschtscho ras“ (noch einmal) zu rufen, wenn ihnen etwas gut gefallen hatte, und wenn er sie mit „Auf Widdersän!“ verabschiedete, dann konnte er sicher sein, die meisten in der Tat wiederzusehen.

Der eigentliche Glanz des „Blauen Vogel“ ging von seinen Kostümen und Dekorationen aus. Nichts wurde dem Zufall überlassen, jede Wirkung war geprobt und optisch vorbereitet. Aus einem guten Dutzend Maler, für die das Theater eine eigene Werkstatt unterhielt, ragten A. Chudjakow und P. Tschelischtschew heraus. Ein Bühnenbild von Chudjakow, flammend gelbroter Himmel über Flußlandschaft, bewirkte, daß den Zuschauern selbst der Vortrag eines so simplen Liedchens wie der „Wolgaschlepper“ als aufregendes, nie gehörtes Erlebnis in Erinnerung blieb.

Gute 80 Nummern umfaßte das Repertoire des „Blauen Vogel“. Mit ihm konnte er im Juni 1928 bereits auf 1800 Vorstellungen in Deutschland (nicht nur in Berlin), den USA, der Schweiz, Holland und anderswo zurückblicken. In Spanien und Litauen, Schweden und Jugoslawien, überall hatte der „Blaue Vogel“ seine Federn gespreizt und die Menschen entzückt. „Der Blaue Vogel ist das Herrlichste, was man hier in der Welt sehen kann“, schwärmte Else Lasker-Schüler, und mit dieser Begeisterung stand sie nicht allein.

Verschlossen blieb dem Theater nur der Kraftquell, aus dem es letztlich kam. Das „Lied vom Blauen Vogel“ – auf der Bühne russisch gesungen, im Programmheft deutsch übersetzt –, das in keinem Programm fehlte, sagte, was dem Theater fehlte: Die Bindung ans „heilige Rußland, aus dem wir verbannt“.

Foto: Bunte Pracht: Der Innenraum des Theaters


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