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19.01.08 / Voller Schrunden / Ermländerin berichtet über Flucht und Vertreibung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-08 vom 19. Januar 2008

Voller Schrunden
Ermländerin berichtet über Flucht und Vertreibung

„… er ist das Einzige, was aus einer anderen Zeit übrig geblieben ist. Er ist Heimat, Kindheit, liebenswerte Erinnerung. Ich hüte ihn wie eine kostbare Reliquie. Er hat Schrammen und Schrunden. Viele Hände haben bei ihrer Arbeit Spuren auf ihm hinterlassen.“ Die Rede ist von einem „alten Stopfpilz“ – so auch der Titel des Buches –, der schon der Großmutter der Autorin Irene Maria Marchewa gehörte.

1929 mit dem Mädchennamen Schlegel in der ostpreußischen Kreisstadt Rößel auf die Welt gekommen, erlebt die katholische Ermländerin relativ friedliche Kinderjahre. Nach der Volksschule arbeitet sie in einem Lebensmittelgeschäft, in dem sie die Rationierung durch den Krieg jeden Tag vor Augen hat. Als die Rote Armee sich ihrer Heimat nähert, entscheiden sich ihre Mutter und Tanten jedoch gegen eine Flucht, schließlich seien die Russen ja auch im Ersten Weltkrieg in Ostpreußen gewesen, und alles sei relativ glimpflich abgelaufen. Welche Folgen das vor allem für die 16jährige Irene und ihre teilweise auch deutlich jüngeren Cousinen hat, ahnen die Frauen nicht. Schon gleich in den ersten Tagen des Einmarsches der Sowjet-Soldaten müssen sie nicht nur selber den Russen zu Willen sein, sondern sie müssen auch mit ansehen, wie ihre Töchter immer und immer wieder vergewaltigt werden.

Erst heute, über 60 Jahre nach den damaligen Ereignissen, kann die Autorin über das Erlebte schreiben. Häufig deutet sie nur an, doch das reicht schon, um das unermeßliche Leid, das die Frauen neben Hunger und Krankheit erleiden, durchmachen müssen, zu erahnen. Warum sie trotz zahlreicher Selbstmordgedanken ihrem Leben doch kein Ende setzen, erklärt sich aus der Gemeinschaft des Leidens, die ihnen Halt gibt. Auch wenn rings um die Familie herum Menschen ermordet werden, die Familie Schlegel bleibt lange Zeit ohne Tote. Ihre Großmutter rettet sogar ungestraft eine neunjährige Cousine vor Vergewaltigung. Doch dann kommt der Typhus …

Die junge Frau jedoch überlebt selbst die Zeit des Arbeitslagers relativ unbeschadet. Wieder bei ihrer Familien, muß sie mit ansehen, wie ihre Heimat von Polen in Besitz genommen wird.

Gegen den Wunsch der Mutter entscheiden sich die Kinder im November 1945 für das Verlassen des Ermlandes. „Auch meine Großmutter, mit ihrer Schwiegertochter und den drei Kindern, waren dabei. Die kleine Eleonore war damals sechs Jahre alt, den Transport überlebte sie noch. Als sie Berlin erreichten, kam sie gleich ins Krankenhaus, dort ist sie nach kurzer Zeit an den Folgen der Unterernährung und den ausgestandenen Strapazen verstorben.“

Selbst als die Familie in Mecklenburg-Vorpommern eine neue Bleibe gefunden hat und der Vater aus Kriegsgefangenschaft heimgekehrt ist, sind sie für die Einheimischen nur verlaustes Pack. Außerdem gibt es Spannungen in der Familie. Die sechsjährige Renate sieht nicht ein, warum sie sich ihre Mutter mit dem fremden Mann, der ihr Vater ist, teilen soll.

Auch wenn Irene Maria Marchewa keine gewandte Autorin ist, ihre aus dem Herzen kommenden Schilderungen berühren. Da sie viele Erinnerungen und Eindrücke beschreibt, und so die Vergangenheit lebendig werden läßt, ist ihr Buch auch einem breiten Leserkreis zu empfehlen. Bel

Irene Maria Marchewa: „Der alte Stopfpilz – Von Ostpreußen nach Mecklenburg“, Edition Altstadt, Rostock, broschiert, 370 Seiten, 19,80 Euro, Best.-Nr. 6512


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