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19.01.08 / In Etappen sterben / Roman aus der Sicht eines Alzheimerkranken

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-08 vom 19. Januar 2008

In Etappen sterben
Roman aus der Sicht eines Alzheimerkranken

Das Thema Alzheimer ist von beständiger Aktualität. Neben medizinischen Ratgebern findet man mittlerweile etliche Erfahrungsberichte von Angehörigen Betroffener auf dem Büchermarkt. Sich dieser Problematik auf dem Gebiet der Belletristik anzunehmen ist allerdings ungewöhnlich und stellt eine Herausforderung dar, nicht nur für den Autor, sondern auch für die Leser. 

In ihrem Roman „Niemandsland“ hat die dänische Schriftstellerin Kirsten Thorup mit großer Ausdruckskraft das Lebensbild eines Mannes aus einfachen Verhältnissen entworfen, der im Alter das Auseinanderfallen der eigenen Identität mehr oder weniger bewußt miterleben muß. Sohn und Schwiegertochter fühlen sich mit der Betreuung des an Alzheimer-Demenz erkrankten Vaters überfordert und haben ihn daher unter einem Vorwand in einem Heim untergebracht, das von der Ortsgemeinde verwaltet wird. Dort führt er seither ein fremdbestimmtes Leben.

Carl S., der sich an seinen Nachnamen nicht mehr erinnern kann, ist in seinem Innersten verunsichert. Seine Wesensart wird veränderlich, es packt ihn oft ein dumpfer Zorn, was er selbst als bedrückend empfindet. Die Pflegerinnen, denen ein hohes Maß an Geduld und Gleichmut im Umgang mit den Patienten abverlangt wird, sind die Helden im Hintergrund der Handlung. Eine von ihnen redet Carl an, seine gedankliche Reaktion: „Ich wußte nicht, wie das zu verstehen war. Das machte mich rasend“ ist möglicherweise ein Schlüsselsatz zum Verständnis der Krankheit mit ihren schwerwiegenden Folgen.

Kirsten Thorup schenkt den Lesern nichts, wenn sie die Kommunikationsversuche des Heimpersonals mit dem sich sträubenden Carl gleichsam dokumentarisch wiedergibt. Ohnmachtsgefühle entstehen auf beiden Seiten, davon bleibt auch die Tochter bei ihrem Besuch des Vaters nicht verschont, das geht in der Tat unter die Haut.

Carl trägt in seinem Innern eine ganze Welt von Erinnerungen mit sich herum, die an die Oberfläche drängen. Doch sie sind eingeschlossen, er kann sie nicht mehr in Worte fassen. Dies unternimmt die Autorin, beginnend mit der nicht minder berührenden Schilderung einer Jugend auf dem Land in der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Dabei geht es unter anderem um die Ausbeutung armer Kinder als Arbeitssklaven, was keineswegs als Einzelfall aufzufassen ist, sondern als Teil eines langen und traurigen Kapitels der Sozialgeschichte, ein Resultat menschlicher Gleichgültigkeit und Kälte. Aber es gibt einen Ausgleich für das Elend, Auswege, die ein Kind selbst ersinnt, um sich dennoch Lebensfreude zu schaffen. Die Liebe eines Menschen zur Natur steht dabei im Vordergrund und der Trost, den die Schönheit der Natur immer bereithält. Nach und nach entwickelt sich das Buch zu einem packenden Familienroman, der auch gesellschaftliche Probleme der Gegenwart aufgreift.

Kirsten Thorup, die bisher Lyrik und Romane sowie Theaterstücke und Drehbücher verfaßt hat, ist mit „Niemandsland“ ein literarisches Werk gelungen, dessen Bildungswert hoch zu veranschlagen ist. Das Überraschende daran ist die leichte Lesbarkeit trotz der Schwere des Inhalts, das Besondere die künstlerische Umsetzung subtiler Beobachtungen menschlichen Verhaltens. Die Figuren des Romans überzeugen jederzeit. Hervorzuheben ist auch die ausgezeichnete Übertragung ins Deutsche von Angelika Gundlach.        Dagmar Jestrzemski

Kirsten Thorup: „Niemandsland“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2007, geb., 210 Seiten, 19,80 Euro, Best.-Nr. 6513


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