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26.01.08 / Im Sturm der Globalisierung / Auch das Gemeinschaftsleben im israelischen Kibbuz wird immer individueller

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-08 vom 26. Januar 2008

Im Sturm der Globalisierung
Auch das Gemeinschaftsleben im israelischen Kibbuz wird immer individueller
von Robert B. Fishman

Ich möchte zurück zu den schönsten Tagen meines Lebens, die Barfuß-Tage von Benyamina, als alles langsam floß, die Sonne sich noch Zeit ließ, die Leute sich freundlich grüßten und ein Freund ein Freund war“, singt der 2005 verstorbene Dichter und Liedermacher Ehud Manor und fragt am Schluß: „Was ist aus dem Kind geworden, das plötzlich aufstand und verschwunden ist?“

„Kein Israeli, der das Land liebt, kann das Lied ohne Tränen hören. Auch ich nicht“, schreibt die aus dem Rheinland stammende Bloggerin Silja, die vor 20 Jahren als Studentin ein Semester im Kibbuz Dalija bei Haifa verbrachte und blieb. Heute lebt sie mit ihrem Mann und den vier Kindern in einem liebevoll restaurierten Reihenhaus mit Blick über die Hügel des Carmel-Gebirges. Im Dunst am Horizont verschwimmen die Häuser von Haifa. „Ich habe mich damals in das ganze Paket verliebt“, schwärmt Silja: „In meinen Mann, den Kibbuz und das Land.“

Das Land hat sich verändert. Der Kibbuz auch. Als in den 90er Jahren Siljas Bruder zu Besuch kam, staunte er über die frei zugänglichen Kühlschränke im Speisesaal. Wer Hunger hatte, bediente sich so oft er oder sie wollte. „Wir waren immer stolz darauf, daß der Kibbuz auf Vertrauen aufgebaut ist und daß niemand das Vertrauen ausnutzt“, erinnert sich Silja an das vergangene Jahrhundert. 

Die Zeiten sind vorbei, in Dalija ebenso, wie in den anderen rund 270 Kibbuz-Siedlungen. Rund drei Viertel der Kibbuzbewohner zahlen inzwischen ihr Essen selbst, ein Drittel der Arztpraxen in den Kibbuzim ist privatisiert. Für ihre Stromrechnung kommen vier von fünf der Kibbuznikim genannten Bewohner selbst auf und zwei Drittel verdienen ein eigenes Gehalt. „Vor allem älteren Kibbuzbewohnern gilt derlei als Umsturz, manchen gar als Untergang der Welt, für die sie ihr Leben lang gekämpft haben.“

„Je zwei Familien teilten sich einen Waschraum, vier Familien wohnten in einem Haus“, erinnert sich die Deutsche Ilana Michaeli. 1939 floh sie als Jugendliche vor dem Terror der Nazis in den Kib-buz Hasorea bei Afula. In akzent-freiem Deutsch erzählt die 86jährige von ihren ersten, harten Jahren im Kibbuz. Die schwarzweiß Fotos in ihrem Album zeigen kräftige junge Männer, die aus dicken Baumstämmen Häuser bauen und auf Urtieren ähnlichen Traktoren das Land bestellen. Manche mähen die Felder mit der Sense. Heute wohnt sie zwischen ihren Erinnerungen in einem kleinen kibbuztypischen Zwei-Zimmer Reihenhäuschen: Weiße, verwitterte Würfel aus Ziegelsteinen oder Beton mit dünnen Wänden. Im einem alten, abgewetzten Ledersessel, einem Sofa und einer Schrankwand Modell Eiche-Imitat gefüllten Wohnzimmer surrt die elektrische Klimaanlage. Ihre Freizeit verbringt die weißhaarige Dame mit den wachen Augen gerne am Computer. „Ich habe Freunde in der ganzen Welt, mit denen ich per E-Mail korrespondiere“, erzählt sie stolz.

Seit der Staat die Wirtschaft pri-vatisiert und ausländische Inves-toren ins Land lockt, weht auch in Israel der eisige Wind des Welt-markts. Viele der kleinen Kibbuz-betriebe halten der internationa-len Billig-Konkurrenz nicht stand. Die Landwirtschaft, die bis in die 90er Jahre zwei Drittel der Kib-buzeinnahmen lieferte, lohnt sich kaum noch.

In Deganya B ernähren Viehzucht, Dattel- und Bananenplantagen sowie eine Fabrik für land-wirtschaftliche Sprühgeräte die Kibbuznikim mehr schlecht als recht. Die Bewohner von Gan Shmuel leben ganz gut von Israels größter Saftfabrik, an der sich inzwischen ein ausländischer Investor beteiligt hat.

Die Kibbuzim haben die Mentalität ihrer Bewohner geprägt. „Sorglosigkeit“ sagt man ihnen nach – im Positiven wie im Nega-tiven. Sie kennen keine Existenz-sorgen und gelten als naiv. Den Umgang mit Geld müssen sie draußen erst mühsam lernen. Besonders ausgeprägt ist in den Kibbuzim die Sorge um den Nächsten. Diana, eine Theaterregisseurin, die in New York, Chicago und Tel Aviv gelebt hat, wohnt mit ihren beiden Kindern im abgelegenen Wüstenkibbuz Qetura. In der Gemeinschaft fühlt sie sich sicher und geborgen. Als ihre Mutter gestorben war, „haben alle angerufen, Essen gebracht und ihre Hilfe angeboten. Das bekommst du sonst nirgends“, schwärmt sie.

Mit zahlreichen Reformen versuchen die Kibbuzim, junge Leute anzulocken und ihren wirtschaft-lichen Niedergang zu stoppen: Die Gehälter, die einst aufs Gemeinschaftskonto flossen, werden nun direkt an die Mitglieder überwiesen. Viele, die für die „Privatisierung“ genannten Änderungen stimmen, sehen nicht, welche Kosten danach auf sie zukommen. Lebensmittel, Strom, Wäscherei, Arztrechnungen und alle anderen Lebenshaltungskosten müssen die Kibbuzbewohner nun selbst bezahlen. Wer einen gut bezahlten Job außerhalb hat, lebt nach der Privatisierung besser. Die Alten und gering Qualifizierten, die der Kibbuz bislang irgendwo mit beschäftigte und ernährte, verlieren ihre Lebensgrundlage und ihre Arbeit, die sie zum Teil der Gemeinschaft machte. 

Das moderne Israel, wandelt sich immer mehr zu einer individualistischen Konsumgesellschaft nach US-amerikanischem Vorbild. Die Ideen der sozialistischen Pioniere sind out. Doch es gibt auch erfolgreiche Neuanfänge. Vier sogenannte Stadtkibbuzim greifen die Ideen der Gründer auf. Bei der Umsetzung gehen sie andere Wege.

Auch einige traditionelle Kibbuzim haben sich inzwischen der Umgebung geöffnet. „Die Eltern der Kinder kommen aus dem Jemen, dem Irak, Marokko, und es sind auch einige Araber dabei“, erklärt der 83jährige Kibbuznik Sol Etzioni mit leuchtenden Augen. Die Kinder der Einwanderer lernen hier Instrumente, die ihre Eltern nie gehört oder gesehen haben und sogar klassisches Ballett. „Wenn mir das jemand vor 50 Jahren erzählt hätte, ich hätte es nicht geglaubt“, ergänzt Etzioni strahlend. Als der Australier vor mehr als 50 Jahren nach Tsorah kam, bestand der Kibbuz nur aus einigen Holzhütten. „Damals gab es hier im Tal nur einen Baum“, erinnert sich Etzioni und zeigt auf die dunkelgrünen Bäume vor dem Fenster seiner kleinen Wohnung. Die Kibbuznikim haben mit Unterstützung des Nationalfonds Keren Kayemet Le Israel einen der größten Wälder des Landes angelegt.

Foto: Zufrieden: Seit 30 Jahren lebt der Österreicher Erich König im 1920 gegründeten Kibbuz Deganya B.


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