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09.02.08 / Vor dem Tod sind alle gleich / Seit über 800 Jahren bestatten die Charitablen Tote kostenlos und nach dem gleichen Ritual

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 06-08 vom 09. Februar 2008

Vor dem Tod sind alle gleich
Seit über 800 Jahren bestatten die Charitablen Tote kostenlos und nach dem gleichen Ritual
von Robert Fishman

Südflandern im Sommer 1188. In den Rinnsteinen der Gassen stapeln sich die Toten. Niemand will sie beerdigen – aus Angst vor Ansteckung. Wer noch gehen kann, sucht Schutz in den Kirchen. Andere Verzweifelte ziehen in der Hoffnung auf Erlösung durch die Straßen und schlagen sich ständig mit Peitschen auf ihre schon blutigen Rücken. Die vom Verwesungsgestank vergiftete Luft macht das Atmen zur Qual. In der Grafschaft Artois hat die Pest ganze Dörfer ausgelöscht. In der Hauptstadt Arras stirbt jeder Zweite an der Seuche.

Ratten verbreiten das Virus immer schneller. Hilfe gibt es keine. Da erscheint zwei Männern im Traum der Heilige Eglisius: „Geht nach Béthune, bestattet die Toten und helft denen, die noch leben“, sagt er ihnen. Germon de Beuvry und Gauthier de Béthune machen sich gleichzeitig auf den Weg. An einer Quelle vor dem Festungsstädtchen Béthune begegnen sie sich zufällig, erzählen einander von der Erscheinung des Heiligen und beschließen, gemeinsam zu helfen. 

Seitdem bestatten Ehrenmänner, die Bruderschaften der „Charitablen“ im heute nordfranzösischen Artois die Toten kostenlos, ohne Ansehen von Herkunft, Vermögen und Religion nach einem seit 1188 fast unveränderten Ritual.

Nach der Messe, an der sie schweigend in ihren schwarzen Uniformen teilnehmen, tragen vier Charitable den Sarg aus der Kirche auf ihren Holzwagen und schieben ihn in einer stillen Prozession, gefolgt von den Hinterbliebenen, zum Friedhof. Auf dem Kopf tragen sie schwarze Zweispitzhüte aus Filz, dazu einen schwarzen Frack, schwarze Hosen, schwarze Schuhe, ein blau-weißes Hemd mit weißer Fliege und weiße Handschuhe.

Ein Bruder geht voraus und bahnt dem Trauerzug den Weg durch den Verkehr. Vier weitere schieben das Fuhrwerk mit dem von einem violetten Leichentuch bedeckten Sarg. Dafür hat ihnen der französische Staatspräsident eine Ausnahmegenehmigung gegeben, nachdem die Europäische Union offene Leichentransporte durch Städte verboten hatte.

„Ob Moslems, Christen, Atheisten, Reiche oder Arme, vor dem Tod und für uns sind alle gleich. Alle haben das Recht auf einen würdigen letzten Weg“, erklärt der Vorsitzende der 60 Béthuner Charitablen Marc Pécourt unter dem Bild der Gründer Germon und Gauthier das Ehrenamt seiner Bruderschaft.

Manchmal sind die Charitablen die einzigen, die zum Beispiel einen Obdachlosen auf seinem letzten Weg begleiten.

Aufgenommen wird, wer einen moralisch einwandfreien Lebenswandel nachweist und in der Bruderschaft einen Fürsprecher findet. Wenn dann der Prévot, der Vorsitzende, seine Zustimmung gegeben hat, keiner der Mitbrüder widerspricht und die Ehefrau des Kandidaten einverstanden ist, trägt sich das neue Mitglied feierlich in das seit 1728 geführte Buch der Charitablen ein.

Schwestern gibt es keine. „Jeder muß den Sarg tragen können“, und das sei doch für Frauen zu schwer, gibt der Prévot zu bedenken und fügt schmunzelnd hinzu: „Glauben Sie, daß die Bruderschaft 800 Jahre überstanden hätte, wenn sie Frauen aufgenommen hätte?“

Wer weiß. Die Bruderschaft hat Kriege überlebt, Besatzer, Königreiche und Revolutionen. 1789 verboten die französischen Revolutionäre die Charitablen. Die machten heimlich weiter, ebenso wie unter der deutschen Besatzung zwischen 1940 und 1944.

Inzwischen gibt es im Artois noch 47 Bruderschaften, die größte davon mit 60 Mitgliedern in Béthune. Der jüngste ist hier 45, die meisten längst in Rente.

„Für Berufstätige ist es schwierig. Sie müssen mindestens einen halben Tag in der Woche zur Verfügung stehen“, erklärt der Vorsitzende. „Meine Eisenwarenhandlung hatte jeden Mittwochvormittag geschlossen. Da hatte ich Zeit und bin der Bruderschaft beigetreten“, erinnert sich der 69jährige, der sein Ehrenamt liebt: „Wir halten zusammen, sind füreinander da“, lobt Pécourt seine Brüder, die zum Beispiel drei Monate lang unbezahlt den Fahrdienst für einen Kranken übernommen haben. Abwechselnd fuhren sie die Frau eines Mitbruders jeden Tag die 40 Kilometer nach Lille, damit sie ihren Mann in der Klinik besuchen konnte. Auch beim Bauen oder Renovieren helfen sich die Brüder gegenseitig.

Das Wichtigste ist für die alten Herren, wie sie alle bestätigen, als Rentner noch gebraucht zu werden und etwas für andere tun zu können.

Wenn der als gemeinnützig anerkannte Verein mehr Spenden bekommt, als er für seine Arbeit benötigt, unterstützen die Brüder Notleidende. Ein Junge zum Beispiel brauchte sofort Sicherheitsschuhe, damit er seinen Job auf einer Baustelle behalten konnte. Weil er kein Geld und die Charitablen noch etwas in der Kasse hatten, kauften sie ihm die Schuhe. Auch das Baby, das von seinen kranken Eltern tagelang vernachlässigt war, retteten die Charitablen. „Meist reagieren wir auf Notrufe von Sozialarbeitern“, berichtet der Prévot.

Das Geld kommt von Hinterbliebenen. Die Charitablen weisen vor jeder ihrer kostenlosen Beerdigungen mit einem freundlichen Schreiben auf die Möglichkeit hin, für das soziale Engagement der Bruderschaft zu spenden. Dafür sparen die Familien der Toten immerhin rund 250 Euro für die Sargträger. Einmal im Jahr verteilen die Brüder Brotgutscheine an die rund 25000 Béthuner. Viele kommen, um sich die von Bäckern gestifteten Brötchen abzuholen und zahlen eine Spende für die Brüder ein.

Für ihr Gemeinschaftsleben zahlen die Brüder selbst: Vor jeder Beerdigung kontrolliert der Zeremonienmeister, ob jeder die Tracht der Charitablen korrekt angezogen hat. Wenn etwas fehlt, ein Hemd nicht sauber oder ein Knopf nicht geschlossen ist, kostet das jeweils einen „Strauß“ – eine „Strafe“ von 40 Cents. Wer sich während des Trauerzugs durch die Stadt unwürdig benimmt oder die Figur des Schutzheiligen nicht grüßt, zahlt ebenfalls.

Der Heilige Eglisius hat die Brüder fast 900 Jahre beschützt: Noch nie hat sich einer bei einer Beerdigung mit einer Krankheit infiziert.

Auch die beiden Gründer Germon de Beuvry und Gauthier de Béthune blieben von der Pest verschont. Kurz nachdem die Charitablen im Sommer 1188 ihre Arbeit begonnen hatten, verschwand die Seuche aus Béthune.

Ob das nun am Schutzheiligen lag oder daran, daß die Brüder die auf den Straßen liegenden Leichen bestattet hatten, bleibt dahingestellt.

Foto: Letztes Geleit: Die Bruderschaft der Charitablen auf dem Weg zum Friedhof


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