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09.02.08 / Frage der Schuld / NS-Taten verfolgen Mann bis ins Jahr 2037

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 06-08 vom 09. Februar 2008

Frage der Schuld
NS-Taten verfolgen Mann bis ins Jahr 2037

Eine schmucke bayerische Kleinstadt, eingebettet in eine romantische Waldlandschaft, wird im Sommer 1963 zum Schauplatz, auf dem sich das Drama des Erwachsenwerdens ereignet. Der junge Mann und das Mädchen, die sich in dem als urdeutsch beschriebenen Provinznest begegnen, sind beide nicht als „unbeschriebenes Blatt“ zu bezeichnen. Die Folgen des 18 Jahre zurückliegenden Krieges beeinflussen nicht nur das Leben der Menschen ihrer Elterngeneration, sondern auch das ihre. Es sind die Jahre vor den 68er Unruhen, die Rockmusik hat sich bereits als Ventil für aufgestaute Emotionen der Jugend etabliert.

Der Autor Pierre Péju, selbst Jahrgang 1947, schlüpft in die Rolle seines Protagonisten und erzählt die Geschichte des damals 16jährigen Paul aus dessen Perspektive. Der sensible Austauschschüler aus Paris beobachtet mit überkritischem Blick das nach außen hin intakte soziokulturelle Leben in dem Ort Kehlstein, der in jeder Hinsicht vom Krieg verschont geblieben zu sein scheint. Pauls Gefühle empören sich gegen jene Art von selbstzufriedener Normalität, die sich hier breit gemacht hat, hinter der selbst seine Altersgenossen etwas zu verbergen scheinen. Dementsprechend wird dem Leser suggeriert, der deutsche Alltag sei, jedoch nur für Außenstehende sicht- und fühlbar, überschattet von Kriegsschuld und verdrängten Gewissenskonflikten. Erst auf Seite 70 erfährt man endlich den Grund von Pauls nervösem Mißtrauen gegen die Kehlsteiner Bürger: Es hängt mit dem vor vier Jahren begangenen, mysteriösen Mord an seinem Vater zusammen, der bei der Résistance mitgewirkt hatte. Paul läßt seine latente Abneigung gegen die hiesigen Menschen nur bei der Begegnung mit der rätselhaften, attraktiven Clara und ihrem Vater, dem engagierten Arzt, fallen. Das Mädchen mit der Super-8-Kamera, das immer in Bewegung zu sein scheint, ist sein weibliches Pendant. Ihre Wege werden sich im Laufe von Jahrzehnten mehrfach kreuzen, aber sie wird sich ihm immer wieder entziehen, weil sie nicht anders handeln kann. 

Angesichts der properen Folklore der örtlichen Kirmes ereilt den Jungen die Assoziation, die Burg mitten im Städtchen sei „eine riesige schwarze Hündin, ein altes, keuchendes Tier im Todeskampf, das bald schon auf die Seite sinkt und Zwiebeltürme, Holzhäuser und ihre Bewohner unter sich begräbt, all diese Leute in ihren Trachten, die ihre Lieder singen und nichts ahnen“. Was der Leser an dieser Stelle längst weiß: Zwei Männer aus Kehlstein, der tüchtige Arzt und ein Wehrmachtsoffizier, waren 1941 auf verhängnisvolle Weise in ein unvorstellbar grausiges Kriegsverbrechen in der Ukraine verwickelt, begangen von der SS an der jüdischen Bevölkerung. Die Schilderung der Gräuelmorde von Kramanetsk bildet den parallelen Handlungsstrang im ersten Teil des Buches.

Schuld, Mitschuld und Schuldkomplexe vergiften viele Leben und prägen auch die Lebensläufe der nächsten Generation entscheidend mit. Im zweiten Teil des Romans, der bis ins Jahr 2037 reicht, zeichnet der Autor an Hand von Aufenthalten an den Schaltstationen Pauls Lebensweg als Bildhauer nach. Das Kriegsgrauen lauert weiterhin als Moloch im Hintergrund, worauf schon die einleitende Parabel vom Kinder verschlingenden Riesen hindeutet. Paul wird jedoch irgendwann klar, daß zu allen Zeiten Gut und Böse nebeneinander wohnen. Trotz oder gerade wegen seines hohen Anspruchs, die abgründigen Menschheitsängste und -fragen zu berühren, schwächelt dieses ehrgeizig konzipierte Werk in seinem zweiten Teil. Es ist groß angelegt, doch ist der Umfang im Verhältnis dafür zu schmal, so daß es an Tiefe, an Schärfe mangelt. So treten uns mit den Figuren, die der Autor „aus dem riesigen Steinblock des Möglichen“ (Péju) herausgearbeitet hat, vielfach keine „zierlichen Gestalten“ entgegen, sondern eher grob umrissene Charaktere. Dennoch ist der Roman mit seiner Behandlung lösbarer und unlösbarer Probleme des einzelnen und dessen Fragen an die Geschichte lesenswert.               Dagmar Jestrzemski

Pierre Péju: „Schlaf nun selig und süß“, Piper, München 2007, geb., 335 Seite, 18 Euro


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