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15.03.08 / Berliner kommen immer durch / BVG-Streik: Mit Pappschildern und Radio-Durchsagen organisiert sich eine Metropole

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-08 vom 15. März 2008

Berliner kommen immer durch
BVG-Streik: Mit Pappschildern und Radio-Durchsagen organisiert sich eine Metropole
von Markus Schleusener

Auch das noch, wird sich der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit wohl gedacht haben. Vergangenen Sonntag stellte die Unternehmensberatungsfirma Roland Berger in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ (FAS) ihre Studie über die zehn lebendigsten Städte in Deutschland vor – und Berlin kam nur auf den fünften Platz.

Roland Berger hat eine Formel errechnet, die sich aus den drei „Eigenschaften“ Technologie, Talent und Toleranz ergibt. München liegt in diesem nationalen Wettbewerb klar vorn – vor Stuttgart, Hamburg, Frankfurt und eben Berlin. Ökonomisch gesehen sei Berlin Provinz, lautet das ruhmlose Fazit von „FAS“ und Roland Berger. Die Stadt sei so unattraktiv, daß große Beratungsfirmen und Anwaltskanzleien zwar „schicke Lofts am Hackeschen Markt“ einrichteten. Die Mitarbeiter seien dann aber gezwungen, ständig nach Köln und München zu pendeln – weil dort und nicht an der Spree die solventen Kunden residieren: „In Berlin machen sie kein Geschäft.“

Seit einer Woche nun schon ist die Stadt noch unattraktiver für Investoren. Denn mit dem Pendeln nach München oder Köln wird es nicht leichter durch den Verdi-Streik im öffentlichen Nahverkehr. Während andere Städte nur Warnstreiks zu ertragen haben, geht in Berlin seit Mittwoch vergangener Woche fast nichts mehr.

Die Beschäftigten der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) streiken. Kein Bus, keine U-Bahn, keine Straßenbahn. Wäre noch ein Bahnstreik dazugekommen, der am Sonntagnachmittag in letzter Stunde abgesagt worden ist, dann hätte dies den totalen Zusammenbruch des öffentlichen Nahverkehrs in der deutschen Hauptstadt bedeutet. So fahren wenigstens noch die S- und Fernbahnen.

Der Verkehrsstau ist gewaltig. Durch sonst ruhige Straßen quälen sich plötzlich Tausende von Pkw täglich. Die Autobahn ist dauer-dicht. Radfahrer und Fußgänger bevölkern Straßen, die anderntags menschenleer sind. Und ratlose Touristen stehen am Straßenrand und wissen nicht, wie sie in ihr Hotel kommen sollen. Für Taxifahrer ist es das Geschäft des Jahres. 90 Prozent aller in Berlin gemeldeten Fahrzeuge sind permanent im Einsatz. Das Tagesplus liege zwischen 50 und 100 Prozent, heißt es. Dafür trifft es den Einzelhandel hart. Bernd F., Spielwarenhändler vom Kurfürstendamm, klagt: „Es kommen einfach keine Kunden.“ Wie ihm geht es vielen. Jeder kauft nur das Nötigste, fährt so selten wie möglich mit dem Auto in die Stadt. Sogar im neuen Einkaufszentrum „Alexa“ am Alexanderplatz wurden 20 Prozent weniger Kunden gezählt. Für etliche der rund 400 Läden in den Berliner U-Bahn-Stationen ist der Streik gar existenzbedrohend. Ihre Umsatzeinbußen liegen bei einhundert Prozent, jeden Tag.

Noch schlimmer war es nur 1992. Beim großen ÖTV-Streik stand die ganze Stadt still. Die Einschränkungen für den Verkehr waren noch dramatischer als heute, weil kurz nach der Wiedervereinigung der Stadt noch mehr Baustellen den freien Verkehr in der Stadt behinderten als heute. Autofahrer brauchten für normale Fahrten vier- oder fünfmal so lange wie üblich. Auf 38 Prozent beliefen sich damals die Umsatzeinbußen im legendären Kaufhaus „KaDeWe“ am Kurfürstendamm. Die diesjährige Streiksaison ist alles in allem wohl nicht ganz so schlimm wie die vor 16 Jahren.

Doch volkswirtschaftliche Auswirkungen kümmern die meisten Berliner recht wenig. Ihnen reicht es, daß sie sich zu Fuß auf den Weg zur Arbeit machen müssen. In dieser Woche kam mit den Sonnenstrahlen verstärkt das Fahrrad zum Einsatz. Zudem bildeten sich viele spontane Fahrgemeinschaften, eifrig unterstützt von lokalen Radiosendern.

Angefangen hat der Sender Spreeradio, der seinen Hörern empfahl, ein Schild mit der Aufschrift „Spree“ hinter die Windschutzscheibe zu packen. Damit solle der Fahrer signalisieren: Ich bin bereit, jemanden mitzunehmen. Wer mitgenommen werden will, wurde aufgerufen, sein Fahrziel auf ein Pappschild zu schreiben und hochzuhalten. Diese Kampagne wurde in veränderter Form von anderen Sendern übernommen. Zeitungen, Sender und Autohändler kooperieren, aber die Auswirkungen des Streikes können sie nur lindern, nicht wettmachen.

Klaus Wowereit indes lobte die Berliner für ihre Gelassenheit: „Es zeigt sich in diesen Tagen, daß die Berlinerinnen und Berliner in der Lage sind, mit solchen Situationen pragmatisch umzugehen.“ Und die Berliner – sonst Weltmeister im Schimpfen und Motzen – halten sich in der Tat wacker. Vielleicht haben sie deswegen in der „FAS“-Studie wenigstens in der Kategorie „Toleranz“ den ersten Platz errungen.

Foto: Ratlose Touristen. leere Geschäfte, einfallsreiche Pendler: Berlins Busse blieben im Depot.


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