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15.03.08 / Die eigene Geschichte / Es hätte schlimmer kommen können

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-08 vom 15. März 2008

Die eigene Geschichte
Es hätte schlimmer kommen können
von Christel Bethke

Seit einigen Tagen hatte er einen neuen Platz, direkt am Fenster, das bis zum Boden reichte und einen wunderbaren Ausblick auf den Garten bot, der mich sofort interessiert hatte. Es war ein großer Garten, in dem Lehrlinge eines landwirtschaftlichen Instituts einen Bauerngarten anlegen sollten, hatte Schwester Agnes ihm erzählt. Sie legten Beete an, pflanzten Buchsbaum um Rabatten, und während er sie beobachtete, stieg aus seinem tiefsten Inneren ein anderer Garten auf: der Garten seiner Kindheit.

Seine noch junge Mutter im Kräuterbeet, die unvermeidliche Schürze vorgebunden, an deren Latz die übliche Klammernadel steckte, an der zwei oder drei weitere aufgezogen waren und die bei jeder Bewegung leise hin und her schaukelten. Warum sie sich wohl damit bestückte? Womit rechnete sie, sie, die niemals einen losen Knopf geduldet hätte, geschweige denn einen fehlenden. Auch dafür war meist gesorgt, denn neben der Klammernadel steckte oft eine schon eingefädelte Nähnadel. Als ob sie ohne die Nadeln nicht existieren konnte. Selbst wenn sie mal unterwegs sein mußte, trug sie welche bei sich. Allerdings an versteckter Stelle, unterm Kragen oder an der Innenseite des Mantels. Ob sie auch auf der Flucht welchen eingesteckt hatte? Bestimmt. Man konnte ja nie wissen, was einem so unterwegs zustoßen konnte, aber ob sie in Zweifelsfällen helfen würden, blieb doch zweifelhaft. Schade, daß er sie nie danach gefragt hatte.

Seitdem er den Fensterplatz hatte, ging es aufwärts. Das lag wohl auch an der neuen Schwester, die sensibler mit ihnen umging. Wenn ihn auch anfangs das „Opa Frank“ gestört hatte. Wenn schon „Opa“, hatte er aufbegehrt „dann bitte Opa Frankowski“. Woran man sich nicht alles gewöhnen mußte! „Opa Frank“, ruft die Schwester durch die offen stehende Tür, „vergessen Sie das Trinken nicht.“ Er greift mit dem gesunden Arm nach dem Glas und leert es. Als die Schwester kommt und es erneut füllt, blickt er auf ihre Schürze und möchte ihr am liebsten von den Klammernadeln seiner Mutter erzählen. Andermal vielleicht.

Als sich nach dem Tode seiner Frau herausstellte, daß für ihn nur das „Betreute Wohnen“ übrigblieb, war er ganz verzweifelt. Niemals hätte er sich das vorstellen können und hatte sich „verweigert“, wie man das heute nannte, wo es nur ging. Dabei gehörte er gar nicht zu den Menschen, für die das Glas immer schon halb leer war. Er blieb rebellisch.

Schluß damit, er sieht wieder in den Garten. Vielleicht würde ihn Schwester Agnes mal in den Garten schieben können?

Sie fragt nicht, sie stellt ohne viel Fisimatenten Berichte und Dokumentationen im Fernsehen ein, die, wie sie meint, ihn interessieren müßten, seitdem sie weiß, daß er aus Ostpreußen stammt. Nach dem Kriege war er zehnmal dort, hatte zehnmal Abschied genommen, zehnmal gesucht und nicht gefunden. Auch wenn das alte Haus noch stand, ja, er war sogar in der alten Schule, hatte auf seinem alten Platz gesessen, wo neben ihm früher Rudi saß, den sie Rudi Rallala geneckt hatten. Es blieb eine Leere. Ihm fiel ein, daß in der Erdkundestunde große Landkarten auf dem Kartenständer ausgerollt wurden, auf denen der Lehrer mit dem Zeigestock herum fuhr und auf fernen Kontinenten „unerforschte Gebiet“ anzeigte, auch weiße Flecken genannt wurden. Wie hatte dieses unerforschte Gebiet ihre Phantasie beflügelt! Wie hatten sie damals Reiseberichte verschlungen und sich alles mögliche vorgestellt. Während heute die erforschte ganze Welt ins Zimmer geliefert wird, Fauna und Flora über und unter Wasser, wird ihm die Heimat mehr und mehr zum weißen Fleck. Er richtet sich auf, findet zurück.

Was sagt heute das Horoskop? Er langt nach der Zeitung, sucht, findet und liest halblaut vor: „… viele Hindernisse entpuppen sich als große Chance für ihr Vorhaben.“ Na bitte. An dem Tag als er den Schlaganfall hatte, stand eine große Überraschung für den Tag ins Haus.

Was die Schwester wohl für ein Tierkreiszeichen hatte? Was könnte sie sein? Waage? Oder eher Widder, weil sie so resolut war?

Am Sonntag hatte sie ihn ohne zu fragen einfach in den Wintergarten geschoben, wo junge Musiker ein Konzert gaben. Auch wenn er das Hörgerät nicht eingeschaltet hatte, war es doch nett gewesen, mal unter Menschen zu sein. Warum hatte er nur immer alles abgelehnt?!

Als ihn einer der Übriggebliebenen besucht hatte und meinte: „Menschenskind, lebst wie im Hotel.“ „Der Herbst hat auch noch schöne Tage“, hatte er sich an den Spruch erinnert, aber was war mit dem Winter? Vergessen. Auch schon vergessen, was im Horoskop stand. Aber die Klammernadeln (ob es die wohl noch gab? Sicherheitsnadeln ist wohl die richtige Bezeichnung) an der gestärkten Schürze seiner Mutter waren wieder aufgetaucht, und so würde sicherlich auch manches andere wieder zum Vorschein kommen. Und an „Opa Frank“ hatte er sich fast schon gewöhnt, zumal Schwester Agnes altersmäßig seine Urenkelin sein könnte. Überhaupt, recht betrachtet, hätte alles noch schlimmer kommen können.


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