26.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
22.03.08 / Mein einundzwanzigster Geburtstag / »Mamachen, wenn du wüßtest … Mamachen, wenn du wüßtest« — Der Tod war allgegenwärtig

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 12-08 vom 22. März 2008

Mein einundzwanzigster Geburtstag
»Mamachen, wenn du wüßtest … Mamachen, wenn du wüßtest« — Der Tod war allgegenwärtig
von H. Rauschenbach

Unsere Geburtstage waren für uns keine Festtage, nein. Daran konnte auch die Portion Weißbrot, die wir anstelle des nassen Schwarzbrotes seit ein paar Wochen am Geburtstag bekamen, nichts ändern.

Jeden Tag muß für unsere Kranken, die im russischen Krankenhaus liegen, die tägliche Brotportion hingebracht werden. Das besorgen diejenigen von uns, die im Lager krank geschrieben sind oder die Geburtstag und außerdem Nachtschicht haben.

Das russische Krankenhaus liegt ganz am anderen Ende der Stadt, und so nutzen die Mädels, die das Brot hinbringen, die Gelegenheit aus und gehen auf dem Heimweg klingeln (betteln).

Als mein Geburtstag naht, melde ich mich rechtzeitig bei Alex, dem Lagerkommandanten, damit ich Weißbrot erhalte und auch zum Krankenhaus gehen darf. Seit etwa 14 Tagen besteht strikte Anordnung vom Natschalnik, daß alle, die von der Arbeit kommen, sofort ins Lager müssen. Wir vermuten, es sind Beschwerden aus der Zivilbevölkerung gekommen wegen unserer Bettelei. Dieser Weg vom Krankenhaus bietet uns die einzige Möglichkeit, vielleicht doch etwas Eßbares heranzuschaffen.

Am Morgen meines Geburtstages kommt unser Natschalnik in die Baracke, kommt zu meinem Bett (wir hielten uns ja meistens auf den Betten auf, es gab nur einen Stuhl im Raum) und sagt zu mir, natürlich auf russisch: „Mischke, du bringst doch heute das Brot ins Krankenhaus. Hol dir ein Pferd und Schlitten aus der Fabrik, dann fährst du zum Sägewerk, lädts einen Sarg auf – die wissen Bescheid – und bringst die Erna S. vom Krankenhaus mit. Paar Männer können sie später im Wald begraben. Nimm dir noch die Volkmann mit.“

Zunächst bin ich ärgerlich, daß nun nichts mit meiner Klingeltour wird und ich dafür auch noch meine Freizeit opfern muß, denn abends muß ich schließlich zur Nachtschicht.

Ich gehe zu Frau Volkmann, die in einer anderen Baracke wohnt, und sage zu ihr: „Frau Volkmann, Sie sollen mit mir zum Krankenhaus gehen.“ „Mensch, das ist ja prima“, fällt sie mir begeistert ins Wort. Aber jetzt unterbreche ich sie: „Nein, nein, ist nicht! Mit Klingeln gehen ist nichts. Wir müssen die Erna, die gestorben ist, nach hier holen. Sie soll im Wald beerdigt werden.“ „So ’ne Scheiße“, sagt sie bloß.

Wir ziehen unsere Wattejacken und Filzstiefel an und gehen zum Fabrikhof, wo sich der Pferdepark befindet. Draußen ist herrlichster Sonnenschein und sogar etwas Tauwetter, für März durchaus etwas Seltenes im südlichen Sibirien.

In der Fabrik angekommen, spannen wir unser Pferdchen ein, setzen uns auf das primitive Schlittengestell und fahren zum Sägewerk, um den Sarg zu holen. Der Sarg ist eine roh zusammengezimmerte lange Kiste.

Berta, der ich das Brot geben soll, das ich mir aus der Lagerküche geholt hatte, liegt mit mehreren Russenfrauen in einem Raum zusammen. Sie erzählt mir, daß die Frauen alle sehr freundlich zu ihr sind und ihr auch so manchen Leckerbissen zustecken, den sie von ihren Angehörigen beim Besuch erhalten.

„Na, weißt du, du bist ja direkt zu beneiden. Das Glück möchte ich auch mal haben“, lache ich. „Aber ich kann dir sagen, ich habe vielleicht Pech: Ich muß die Erna S. von hier mitnehmen, die ist gestorben.“ „Nanu, die war doch im Waldkommando beim Bäumefällen, nicht wahr?“ fragt Barbara.

„Ja“, sage ich, „stell dir vor, die hat der ‚Kujjel‘ so zusammengeschlagen, daß sie bald danach gestorben ist.“ Etwa 200 Kilometer von uns entfernt waren 30 Frauen ständig dort in einem Lager, um Bäume zu fällen und für den Transport fertig zu machen, das heißt sie auf Lkw oder Waggons zu verladen. Oft kamen auch zu uns die Waggons, die wir entladen mußten. Die Baumstämme waren nun nicht auf offene Waggons gelagert, nein, die Waggonwände reichten bis hoch über unsere Köpfe, und die dicken Stämme mußten wir, allein mit unserer wenigen Kraft hochhieven und über die Bordwand kippen. Wahrscheinlich war das Beladen noch schwieriger gewesen. Der Natschalnik in dem Lager war berüchtigt wegen seiner Brutalität. Frauen, die von dort zu uns gekommen waren, hatten es erzählt. Er tobte und schlug rück­sichtslos auf die Mädels ein, wenn sie nicht schnell genug arbeiteten, außerdem entzog er noch die Brotration. So hatten ihn die Frauen „Kujjel“ getauft. Es ist ein ostpreußisches Schimpfwort für das männliche Schwein, den Eber. (Frauen, die später von dort zu uns kamen, erzählten, daß „Kujjel“ nach dem Tod von Erna wie umgewandelt war, er war die Güte selbst!)

Als ich mich von Berta verabschiedet habe, frage ich beim Pförtner nach der toten „Njemka“ (Deutsche), wo ich sie finde. Er verweist mich an die Oberschwester, diese holt einen jungen Mann, anscheinend ist es ein Krankenpfleger, der mit mir zu einem kleinen Gebäude geht und die Tür aufschließt. Gemeinsam gehen wir in den Raum hinein, ein durchdringender Karbolgeruch schlägt uns entgegen. Durch ein winziges Fenster fällt ein wenig Licht, wir müssen uns erst an das Halbdunkel gewöhnen. –

Mein Gott! Welch ein Anblick bietet sich uns da! Wir erstarben förmlich: Leichen – Leichen, ringsum an den Wänden sind Tische mit Leichen drauf. Alle nackend, seziert, blutverschmiert, die Bäuche und der Brustkorb sind mit einer groben, wulstigen Naht versehen. Neben zwei Greisen mit langem grauen Bart liegen zwei kleine Kinder mit unwahrscheinlich großen Köpfen. Auch ihr kleiner Bauch ist zerschnitten. Ein Blick hat genügt, um mich dieses Bild nie vergessen zu lassen. „Kuck, da is se!“ sagt Frau Volkmann mit zittriger Stimme. Mein Gott, ja, da ist ihr schmaler, abgemagerter, geschundener Körper. Es sind noch blaue, blutunterlaufene Stellen zu sehen. Sie ist auch seziert worden.

Mit Tränen in den Augen ziehen wir sie unter dem Körper einer anderen Frau, die halb über ihr liegt, hervor. Wir holen den Sarg, stellen ihn vor die Tür und legen unsere Erna, nackt wie sie ist, in die kahle Kiste.

Auf die Idee, ein Gebet zu sprechen, kommen wir gar nicht, so durcheinander sind wir; Dieses fiel mir erst am anderen Tag ein, da lag Erna schon unter der Erde Sibiriens.

Wir laden den Sarg auf den Schlitten, und unser Pferdchen trottet langsam ab. Den ganzen Weg bis zum Lager laufen mir die Tränen, zwischendurch schluchze ich ein paarmal auf. Ein Satz hat sich bei mir festgefressen, ich kann nichts anderes denken, nur immer: „Mamachen, wenn du wüßtest … Mamachen, wenn du wüßtest.“


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren