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22.03.08 / Eine Mittelmeerinsel sieht rot / Mit dem »Roten Büßer« auf Karfreitagsprozession – Korsika pflegt einen alten Brauch

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 12-08 vom 22. März 2008

Eine Mittelmeerinsel sieht rot
Mit dem »Roten Büßer« auf Karfreitagsprozession – Korsika pflegt einen alten Brauch
von Uta Buhr

Nebelschwaden wabern vor Korsikas Westküste. Die Fähre gleitet am Cap Corse vorbei und legt schließlich im Hafen von Bastia an. Schemenhaft zeichnen sich die Umrisse der Kirchtürme und wie Schwalbennester am Berghang klebenden Häuser ab. Am Pier empfängt die Passagiere das Gehupe ungeduldiger Autofahrer und der ätzende Gestank von Abgasen. „Napoléon Bonaparte, der größte Korse aller Zeiten, würde sich im Grab umdrehen“, scherzt Steward Robert, der uns auf der Überfahrt verwöhnt hat. „Er behauptete ja stets, seine Insel mit geschlossenen Augen am Duft wilder Kräuter erkennen zu können.“

Wenn der Frühling naht, zeigt „L’Île de la Beauté“ – Insel der Schönheit – sich von ihrer anmutigsten Seite. Blumen in allen Farbnuancen sprießen, und Abertausende von Macchiasträuchern verströmen ihr betörendes würziges Aroma.

Die wilde Gebirgslandschaft, dominiert vom 2710 Meter hohen Monte Cinto, wird von einer milden Sonne beschienen. Es grünt und blüht in den fruchtbaren Küstenzonen, wo Weinreben in unmittelbarer Nähe uralter Korkeichen und Oliven gedeihen.

Kurz vor Ostern beginnt ein fieberhaftes Treiben. Von Calvi bis Bonifacio bereitet sich die Bevölkerung auf die seit dem Mittelalter gepflogenen Bräuche der Karfreitagsprozessionen vor. Die Altäre der Kirchen werden festlich mit Blumen und kunstvoll aus Palmblättern gefertigten Kreuzen geschmückt. In der Kapelle von Cadon, einem kleinen verschlafenen Dorf oberhalb Calvis, üben drei Männer der lokalen Bruderschaft einen polyphonen Gesang zu Ehren des Herrn ein.

„Auf Korsika gibt es über 50 Bruderschaften“, erklärt  Pfarrer Gaston. „Diese wurden im 13. Jahrhundert gegründet und erfüllten von jeher neben religiösen auch soziale Aufgaben.“ Zu seiner Freude erleben diese „confréries“ in neuerer Zeit wieder einen enormen Zulauf:  „Sie sind viel mehr als Folklore – ihre Mitglieder empfinden tiefe Religiosität.“

Auf der Spitze eines mächtigen Kreidefelsens ruht Bonifacio, der „Malerwinkel“ der Insel, benannt nach dem toskanischen Markgrafen Bonifacio, der ihn 833 gründete. Sehenswert sind der Seemannsfriedhof mit seinen fein ziselierten Grabmalen und die gotische Kirche Saint Dominique. Bevor Einheimische und Touristen sich in den Trubel des Gründonnerstagsumzuges stürzen, wird in den Bistros im Yachthafen unterhalb der Zitadelle kräftig getafelt. Schüsseln mit pikant gewürztem Ziegenfleisch stehen auf den Tischen und bauchige Flaschen, angefüllt mit rubinrotem korsischen Wein, machen die Runde. Am Abend ist ganz Bonifacio auf den Beinen. Die Mitglieder verschiedener Bruderschaften tragen bunte Holzfiguren durch die engen Gassen, begleitet von Kindern, die flackernde Lämpchen in den Händen halten. Am nächsten Morgen um Punkt 8.30 Uhr setzt sich die feierliche Karfreitagsprozession in Bewegung.

Der Zug steigt langsam die steilen, holperigen Straßen empor, einen barfüßigen Mann in schwarzer Kutte, den Büßer, vor sich hertreibend.

„Perdono mio dio“ – ein düsterer Sprechgesang erfüllt die Luft. „Fast jeder Ort auf unserer Insel hat heute einen Büßer“, erzählt  Bruno Bono, der seit kurzem Mitglied der lokalen Bruderschaft ist. „Aber die spektakulärste, die wirklich echte Büßerprozession findet in Sartène statt. Da kommen Sie ja heute Abend hin. Betrachten Sie dieses Spektakel hier als Ouvertüre zu einem ganz großen Ereignis.“

Schwere graue Wolken hängen über Sartène. Erste Regentropfen fallen. Die triste Stimmung verleiht der Stadt einen eigenartigen melancholischen Reiz. Sartène ist kein fröhlicher mediterraner Ort. Mehrstöckige Häuser aus dunklem Granit säumen die Gassen. Diese Stadt über dem Rizzanèse am Hang des Monte Grosso ist der ideale Ort für die mystische Karfreitagsprozession.

Schon vor Einbruch der Dunkelheit sind die besten Plätze im Zentrum besetzt. Es hat inzwischen aufgehört zu regnen. Jetzt taucht der Vollmond ganz Sartène in gleißendes silbernes Licht. Um 21.30 Uhr kündigt dumpfer Trommelwirbel und monotoner Klagegesang den Beginn der Prozession an. Kinder und Fotografen eilen dem Zug voraus. Als der Büßer auf der Bildfläche erscheint, geht ein Raunen durch die Menge.

Eine von Kopf bis Fuß in blutiges Rot gehüllte Gestalt wankt mit einem 50 Kilo schweren Holzkreuz auf dem Rücken und einer 14 Kilo schweren Eisenkette am nackten Fuß durch die Straße. Ihr folgen acht weitere, ganz in Schwarz gewandete Büßer. Sie tragen eine Christusfigur vor sich her.

Das Schlußlicht bildet ein Schwarm kostbar gekleideter kirchlicher und weltlicher Würdenträger, Meßdiener und Honoratioren der Stadt. Indes schleppt sich U Catenacciu, wie der Rote Büßer auf Korsisch heißt, weiter über das Pflaster. In seine über dem Kopf geknotete Kutte sind lediglich Augenschlitze  und zwei winzige Löcher für die Nase geschnitten.

Der schmächtige Mann stöhnt und droht zu stürzen. Der Weiße Büßer hinter ihm hebt das Kreuz leicht an. Er symbolisiert Simon von Kyrene, der, wie die Bibel berichtet, Jesus als einziger auf seinem Weg nach Golgatha geholfen hat, „sein Kreuz zu tragen“. Das Ritual verlangt, daß U Catenacciu dreimal zu Boden fällt und sich mit seiner Last wieder erhebt. „Du mußt dir mal vorstellen, daß der Büßer all das ganz freiwillig tut und sich sogar jahrelang um diesen Job bewerben muß. Das ist der reine Masochismus“, empört sich eine Frau in der Menge. Deren Mann schickt sich gerade an, eine Nahaufnahme von U Catenacciu zu machen, wird jedoch resolut von einem weißhaarigen Priester zur Seite geschoben: „Gehen Sie aus dem Weg“, befiehlt er kurz. „Das hier ist eine heilige Prozession und kein Karneval.“ Die Menge brandet weiter durch die Straßen und Gassen, bis sie endlich in die bis auf den letzten Platz gefüllte Église Sainte-Marie Assunta hineinströmt. Hier darf der Rote Büßer seine Last ablegen. Das Passionsfest endet mit einer feierlichen Messe.

„Es stimmt wirklich, daß jeder, der Büßer werden will, sich um diese Ehre bewerben muß“, erklärt Lino Morave, der fast sein ganzes Leben hier verbracht hat. „Der Pfarrer von Sartène trifft eine strenge Auswahl. Manchmal müssen Kandidaten über zehn Jahre warten. „Dem Geistlichen ist auch als einzigem die wahre Identität des U Catenaccio bekannt, der in jedem Fall anonym bleiben muß.“ Deshalb ist er auch  gänzlich verhüllt. Selbst die nack-ten Füße versucht er so gut er kann mit der Kutte zu verdecken. In den meisten Fällen wollen verurteilte Verbrecher mit diesem Bußgang Sühne tun. Oder aber jene, deren Taten unerkannt blieben, möchten auf diese Weise ihr Gewissen entlasten.“ „Wollen die Leute hier denn nicht wissen, wer der Büßer im wirklichen Leben ist?“ „Natürlich“, bestätigen die Einheimischen. „Alle sind neugierig und schließen sogar Wetten ab. Aber es ist ganz schwer, irgendwen unter der Verkleidung zu erkennen.“ Allerdings endete vor ein paar Jahren die Prozession fast in ausufernder Heiterkeit. Der treue Hund des Büßers hatte sich losgerissen, zerrte fröhlich kläffend an der roten Robe und leckte seinem Herrchen ausgiebig die Füße!

Nach diesen strengen mittelalterlichen Ritualen sehnen sich die meisten der Reisegruppe nach etwas Weltlichem. Und da bietet sich ein Abstecher in nördlicher Richtung an. „Bist du auf Korsika, gibt es vor Napoléon kein Entrinnen“, heißt es. In vielen Orten hat man ihm marmorne Monumente gesetzt.

Den Vogel aber schießt Ajaccio ab, wo er 1769 das Licht der Welt in der „Maison Bonaparte“ an der rue Saint-Charles erblickte. Während Möbel, Bilder und Schriftstücke das eher unspektakuläre Leben seiner Familie dokumentieren, präsentiert sich der spätere Kaiser der Franzosen auf Straßen und Plätzen der Stadt in der Gestalt eines lorbeerbekränzten römischen Imperators in imposanter Größe.

„Maßlos übertrieben“, mokiert sich ein italienischer Tourist. „Der konnte doch mit seinen ein Meter 60 kaum auf den Tisch gucken.“

Diese Kritik an einem nationalen Heiligtum läßt der korsische Reiseleiter nicht im Raum stehen: „Monsieur, wahre Größe mißt man nicht in Zentimetern, sondern in Taten“, verkündet er würdevoll.

Foto: Fast jeder Ort hat einen Büßer: Sei es in rotem Gewand, sei es in schwarzem wie hier in Bonifacio


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