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31.05.08 / Niemand flieht mit einem Ölgemälde / Ein Bild und seine wechselvolle Geschichte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 22-08 vom 31. Mai 2008

Niemand flieht mit einem Ölgemälde
Ein Bild und seine wechselvolle Geschichte
von Günter Haugwitz

Häuser, Höfe, ganze Ortschaften in Ostpreußen sind beim und nach dem Einfall der Russen im Zweiten Weltkrieg verschwunden. Sie wurden in den letzten Kriegstagen von einer erbarmungslosen Kriegsmaschine einfach ausradiert oder, wenn nicht mehr bewohnbar, nach dem Kriegsende als Baumaterial abgetragen. Das ehemalige samländische Gut Amalienhof gehört zu den vielen, die aufhörten zu existieren und die heute auf keiner neueren Karte unter einem russischen Namen zu finden sind.

Wo lag das Gut Amalienhof, das zum Dönhoffschen Besitz gehörte? Wenn man einen Kartenausschnitt vom Landkreis Königsberg im Maßstab von 1:25000 aus den 40er Jahren des vorherigen Jahrhunderts zu Rate zieht, kann man es lokalisieren. Zugestanden: Nur auf einem Meßtischblatt, wie eine solche Karte hieß, waren das Gut und selbst seine größeren Gebäude zu erkennen. Amalienhof lag an der Chaussee von Löwenhagen nach Königberg, dicht vor dem Dorf Steinbeck. Aber wie sah Amalienhof, das zum Hauptgut Friedrichstein mit dem bekannten Schloß gehörte, aus?

Ein Ölgemälde gibt Auskunft. Das vorliegende Bild vom Gut Amalienhof im Samland wurde nach keiner Vorlage, keiner Fotografie oder einer Skizze später nach der Flucht gemalt. Es entstand 1942 an einem sonnigen Junitag. Das Ölgemälde zeigt einen Hof, wie er wohl häufig im nördlichen Ostpreußen zu finden war. Von hier aus wurde das Gut Amalienhof selbst und auch der landwirtschaftliche Betrieb Fasanerie und landwirtschaftliche Nutzflächen des Gutes Friedrichstein von meinem Vater verwaltet. Das Gemälde des regional bekannten Malers Kreis, der in Löwenhagen lebte, war ein Geschenk des Pächters für meinen Vater. Obwohl es nicht zur großen Kunst gerechnet werden kann, muß man dem Ölgemälde zugestehen, es fängt die schlichte Schönheit des Hofes ohne Überhöhung ein.

Man erkennt auf dem Bild Stallungen, Scheunen und im Vordergrund das Haus, in dem der Verwalter der drei landwirtschaftlichen Betriebe sein „Hauptquartier“ hatte. Ein schlichtes weißes Gebäude. Ohne Balkone, Säulen und andere schmückende Elemente. Alle Fenster unten im Erdgeschoß von gleicher Größe, und darüber unter dem Dach wohl etwas kleinere. Eine dunkelgrüne Veranda an der einen Schmalseite des Hauses nahm dem Gebäude etwas von seiner preußischen Strenge. Eine dicke, stets sauber geschnittene Lindenhecke umgab das Wohnhaus und damit auch einen Gemüsegarten, einige Obstbäume und ein kleines Gartenhäuschen.

Wenn wir Amalienhöfer Kinder uns dem Hof näherten, erkannten wir seine Wahrzeichen schon aus der Ferne. Es waren drei große Birken, die sich vor dem Wohnhaus des Verwalters postierten. Ob wir nun aus Löwenhagen aus der Schule kamen und Jahre später vom Löwenhagener Bahnhof, von dem aus die wenigen Fahrschüler zum Hauptbahnhof in Königsberg fuhren und von dort nach Hause starteten – wenn wir die Birken ausmachen konnten, waren wir in wenigen Minuten am häuslichen Tisch, der die Familie vereinigte. Amalienhof war unser Zuhause und das vieler Familien, die auf dem Hof arbeiteten und wohnten.

Das Bild regt die Erinnerung an Tage an, die randvoll von kleinen und großen Jugenderlebnissen waren. Während die Männer und Frauen des Hofes die jahreszeitlich vorgegebene Feldarbeit erledigten und den vielfältigen Tätigkeiten in den landwirtschaftlichen Gebäuden nachgingen, hatte der quirlige, neugierige Nachwuchs, der auf dem Gut heranwuchs, seinen eigenen Aktionsradius mit eigenem Jahreskalender. Die Lindenhecke steckte dabei den inneren Raum unserer frühen Jugend ab. Später kam der große Gutshof mit seinen Arbeitsflächen zwischen den Wirtschaftsgebäuden hinzu. Dort wurden nach Feierabend, wenn Fahrzeuge und Vieh in den Stallungen waren, von den Jugendlichen und den Kindern wilde Spiele und Wettkämpfe ausgeheckt und bis zum Dunkelwerden oder dem Rückruf der Eltern mit vollem Eifer ausgetragen – vor allem Rutenkämpfe, Völkerball, Treibball und ansatzweise auch Schlagball. Im Sommer bauten die Jungen in den alten Weiden, die an den zwei Teichen des Gutes standen, Burgen und zimmerten Flöße, die dort zu Wasser gelassen wurden. Wenn die Kartoffelfeuer auf den leeren Äckern brannten, veranstaltete der männliche Nachwuchs Drachenolympiaden, bei denen viele Meter des begehrten Bindegarns (Bindfäden, die man zum Binden der Getreidegarben brauchte) draufgingen. Der Kämmerer wußte von den hohen Schwundmengen, war aber kein Spielverderber. Im Winter mußte man mangels bergigen Geländes kleine Rodelberge errichten. Da mußten alle Schnee schippen. Höhepunkte der „Wintersaison“ aber waren Schlittenpartien im Bommelzug. Sie wurden sonntags veranstaltet. Das Zugpferd für die vielen Rodelschlitten der Kinder und der Kutscher dazu wurden für das winterliche Vergnügen vom Gut zur Verfügung gestellt. Und auch der Reiseproviant – es gab Äpfel und Pfefferkuchen. Die letzte Ausfahrt fand im Winter 42/43 statt. Sie führte nach Friedrichstein, wo es um den Schloßteich herum Abhänge gab.

Aber nur zwei Jahre später tauchten die ersten Zeichen nahenden Unheils auf. Wie Schatten legten sie sich auf das bisher friedliche Leben in Ostpreußen. Flüchtlinge kamen aus dem Baltikum, dann aus der Elchniederung. Königsberg wurde bombardiert. Wieder mußten Pferde dem Militär zur Verfügung gestellt werden. Russische Kriegsgefangene, die auf den Gütern arbeiteten, wurden mit unbekanntem Ziel abgezogen. Immer häufiger enthielten die Nachrichten von der Ostfront die umschreibende Formel Frontbegradigung. Mit anderen Worten: Die Front rückte näher. Als die russischen Truppen in den letzten Januartagen des Jahres 45 immer schneller auf Königsberg vordrangen, begann das große Packen. Denn – obwohl es keiner aussprach – die deutsche Front und damit auch Friedrichstein, wohin wir nach Ablauf der Pacht von Amalienhof 1943 umgezogen waren, waren nicht länger zu halten.

Die Flucht wurde vorbereitet. Auch in meiner Familie. Meine Mutter entschied, was auf den Treckwagen, den sich immer zwei Familien teilen mußten, kommen sollte und was wir vier Kinder als Handgepäck auf die Flucht mitnehmen durften. Zu der warmen Winterkleidung, die wir trugen, kamen weitere wintertaugliche Kleidungsstücke dazu – wir wurden regelrecht „eingemummelt“. „Was wir am Körper tragen, müssen wir nicht mit den Händen tragen“, meinte meine Mutter. Sie hatte schon eine Flucht erlebt. Als die Russen im Ersten Weltkrieg große Teile Ostpreußens überrannten.

Das Bild von Amalienhof war wegen seiner Größe wohlverpackt bereits auf dem Treckwagen, der auf dem Hof stand. Der Geschützdonner kam schnell näher. Die Nachrichten überschlugen sich und verbreiteten Unruhe und Verwirrung. Alle Nachbarn und Anwohner von Friedrichstein waren nervös, aufgeregt, manche kopflos. Der Stellmacher, einer der wenigen Männer, die vom Wehrdienst freigestellt waren, versuchte Ordnung im Durcheinander zu schaffen. Er überholte noch einmal die Fluchtwagen, schmierte die Räder. Tage zuvor hatte er schon dafür gesorgt, daß die Pferde wegen der Straßenglätte in der Schmiede frisch mit Stollen beschlagen wurden. Der Befehl zur Abreise aber kam nicht. Er kam nie. Als die in Friedrichstein stationierten deutschen Soldaten einer Verpflegungseinheit dann am 25. Januar 45 übereilt und schlecht organisiert ihren Rückzug begannen und uns energisch zur sofortigen Abreise auf ihren LKW aufforderten – wohl weil sie nicht vor der Zivilbevölkerung abrücken wollten –, mußten wir uns von unserem letzten Wohnsitz Friedrichstein und dem abfahrbereiten Treck verabschieden.

Nicht alle Bewohner konnten sich aus dem Stand von ihrem schweren Fluchtgepäck auf den Wagen trennen und blieben. Es blieben auch aus dem Bestand der Versorgungseinheit große Mengen von Fliegerschokolade, Büchsen mit Rindfleisch, Knäckebrot und andere Lebensmittel, die – vorher in Speichern des Gutes für die kämpfende Truppe streng behütet — jetzt als „Wegzehrung“ in kleineren Portionen freigegeben wurden.

Ich weiß nicht, was mir in diesen letzten Stunden vor dem Abzug alles durch den Kopf schoß. Ich hatte bereits am Tag zuvor als „treu-naiver 14jähriger Pimpf“ verbittert Fahne und Pimpfenwimpel verbrannt und jetzt sollte ich auch noch das Bild den Russen überlassen? Einem plötzlichem Einfall folgend lief ich zum Wagen, holte das Bild und entfernte es aus seiner Verpackung und seinem Rahmen, verkürzte das auf einer dünnen Holzplatte gemalte Bild mit einer Laubsäge um einige Ackerstücke und einige Gebäude. Aber nur so paßte das Bild genau in die Rück­wand meines Koffers. Die Amalienhöfer mögen mir verzeihen, daß ich den Hof um eine ganze Häuserreihe reduzieren mußte.

Mit der Bildfläche nach innen überlebte das Bild als „Kofferstabilisator“ viele Etappen unserer Flucht. Die erste führte auf schwerbeladenen LKW mit den deutschen Soldaten nach Königsberg. Darauf folgte eine schauerliche Schiffsreise auf einem überfüllten kleinen Minensuchboot von Königsberg nach Swinemünde. Die Soldaten, die uns bis zum Hafen brachten, konnten nicht – wie sie es wohl gehofft hatten – auf das völlig vereiste Boot. Sie wurden sofort den Einheiten zur Verteidigung Königsbergs unterstellt. Auf das Boot durften nur kinderreiche Familien und schwerverwundete Soldaten. Diese Passagiermischung und die Gerüchte über die russischen U-Boote, die in der Ostsee Jagd auf deutsche Schiffe machten, schafften an Deck des kleinen überfüllten Kriegsschiffs von der ersten Minute an eine nervöse Dauerpanik, die erst endete, als die übermüdeten und hungrigen Menschen im Hafen von Swinemünde spät in der Nacht vom 26. auf den 27. Januar von Deck gehen konnten. Wobei sie erst dann erfuhren, daß ihr Schiff wegen eines Maschinenschadens viel später als geplant den Zielhafen erreicht hatte. Das Boot wäre schon deswegen ein leichtes Ziel für russische Torpedos gewesen.

Nach vielen weiteren Zwischenstationen, die in Pommern und Mecklenburg lagen, schafften wir dann nach gut neun Monaten, also einige Monate nach Kriegsende, auch den letzten Wegabschnitt nach Schleswig-Holstein. Dort lebte dann unsere Familie: Mutter und wir vier Kinder auf einem Bauernhof in einem Zimmer. Einige Jahre. Das einzige wirkliche Schmuckstück dieses Allzweck­raums war das Bild von Amalienhof. Es erhielt einen Rahmen und einen Ehrenplatz. So konnten wir dem Großbauern, der uns aufnehmen mußte, recht standesgemäß überzeugen, daß auch wir „vom Lande“ kamen.

Von Amalienhof blieb nichts übrig. Nur das Bild. Als wir nach vielen Jahren nach Ostpreußen fuhren, um Amalienhof zu suchen, fanden wir nicht einen Ziegelstein, nicht einen Nagel. Wie auch das Schloß Friedrichstein, die Güter Schanwitz (bei Gutenfeld) und Gabriel (bei Steinbeck) war Amalienhof von der Bildfläche verschwunden.

Foto: Ein Gemälde des Amalienhofs zeigt, wie er einst war.


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