29.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
31.05.08 / Nationalheld des 56er Aufstandes / Vor 50 Jahren wurde Imre Nagy nach einem Schauprozeß gehenkt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 22-08 vom 31. Mai 2008

Nationalheld des 56er Aufstandes
Vor 50 Jahren wurde Imre Nagy nach einem Schauprozeß gehenkt
von Wolf Oschlies

Vértanúk tere“ (Märtyrer-Platz) heißt das kleine Memorial im Rücken des imposanten Budapester Parlamentsgebäudes: Ein Teich mit einem Brückchen darüber, auf der Brücke die Bronzestatue von Imre Nagy, dem tragischen Helden des ungarischen Volksaufstands von 1956. Am 16. Juni 1958 wurde Nagy hingerichtet. Die Statue zeigt ihn lebensecht: Zwicker, Schnauzbart, altmodischer Anzug – das ganze Habit eines Habsburger Schulleiters. Nur eins fällt mir auf: „Den habe ich dicker in Erinnerung“, sage ich zur ungarischen Reiseführerin. Die lächelt nur: „Wir auch.“

Imre Nagy war zeitlebens ein kommunistischer Funktionär aus dem zweiten Glied, den jedoch ein paar politische Konzessionen und Kurswechsel, etwas Männermut vor Kreml-Thronen – alles spontan getan und kaum überdacht – ins Pantheon ungarischer Größe katapultierten. Hätte sich Walter Ulbricht, seine Vergangenheit und Parteiloyalität wie Imre Nagy vergessend, am 17. Juni 1953 an die Spitze der erbitterten Volksmassen in Mitteldeutschland gestellt – wäre ihm die zeitlose Verehrung aller Deutschen gewiß gewesen? So wie es Nagy bei Ungarn geht, diesem ängstlichen, entschlußarmen, auf Krisen mit Tränenausbrüchen reagierenden Parteisoldaten, der im Herbst 1956 zum Helden wider Willen erwuchs.

Imre Nagy wurde am 7. Juni 1896 im südungarischen Ruppertsburg (Kaposvár) geboren, das damals bereits eine aufstrebende Industriestadt war. Nach kurzer Schulzeit absolvierte er eine Schlosserlehre und wurde zu Beginn des Ersten Weltkriegs zur Armee geholt. An der Ostfront geriet er 1915 in russische Gefangenschaft und schloß sich später Lenins Bolschewiken an. Ihnen diente er so loyal, daß er in das Kommando unter Jakov Jurowski beordert wurde, das in der Nacht vom 16. zum 17. Juli 1918 in Jekaterinenburg den Zaren Nikolaj und seine Familie ermordete. 1919 war er am ersten Versuch der Bolschewiken beteiligt, ihre Revolution zu exportieren. Er gehörte zu den Führern der kommunistischen „Räterepublik“, die von März bis August 1919 Ungarn devastierte. Nach ihrem Scheitern flüchtete er in die Sowjetunion, kam 1921 wieder nach Ungarn, wo er als linksextremer Agitator Ärger mit Parteien und Behörden bekam und 1929 vor dem autoritären Horthy-Regime erneut in die Sowjetunion floh. Dort bekleidete er politische und journalistische Posten, vor allem überlebte er den stalinistischen Terror der 1930er Jahre – weil er längst ein Spitzel von Stalins Geheimpolizei war, wie 1989 der ungarische Reformpolitiker Károly Grósz behauptete. 

Mit der Sowjetarmee kam Nagy Ende 1944 nach Ungarn zurück, wurde Mitglied im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und war nach Beendigung der Kampfhandlungen Landwirtschafts- und Innenminister. Er hatte also die beiden Ämter inne, in denen er der deutschen Volksgruppe in Ungarn am meisten schaden konnte – durch „Bodenreform“ und Vertreibung. Der ungarische Historiker Gyula Juhász hat 1985 nachgewiesen, daß erst auf Betreiben der ungarischen Regierung die Vertreibungsproblematik auf den Verhandlungstisch von Potsdam kam. Anderweitige Interpretationen, daß nämlich die Siegermächte in Potsdam die Vertreibung angeordnet hätten, bezeichnete Juhász als „Potsdam-Legende“.

Mit dieser Taktik durchkreuzten die Ungarn die Pläne des tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Benesch, alle Deutschen und Ungarn aus seinem Land hinauszuwerfen. Nagy gehörte nicht zu den Hardlinern der Parteiführung, was ihm ein paar wechselvolle Jahre bescherte, in denen er auf unbedeutende Posten verbannt oder wie 1952 zum Vizepremier und Minister für Kollektivierung erkoren wurde. Nach Stalins Tod wurde er am 4. Juli 1955 gar Ministerpräsident. Einen „nationalen und menschlichen Sozialismus“ propagierte Nagy, was ihm im März 1955 als „Rechtsabweichung“ mit der Entlassung aus der Regierung und dem Hinauswurf aus der Partei vergolten wurde.

Mit dem Canossa-Gang der Sowjets zu Tito kündigte sich im Mai 1955 politisches Tauwetter an: Jedes Land, so die damalige „Belgrader Deklaration“, solle seinen „eigenen Weg zum Sozialismus“ gehen. Damit waren auch die vielen kommunistischen Politiker, die zuvor in ganz Osteuropa als „Titoisten“ hingerichtet worden waren, keine „Verbrecher“ mehr. In Ungarn betraf das den früheren Innen- und Außenminister Lászlo Rajk, dem im Oktober 1956 die Partei ein offizielles Begräbnis organisierte, das sich zur ersten antikommunistischen Massendemonstration entwickelte. Die stalinistischen Henker saßen noch in Amt und Würden, auch wenn ihnen das Halali bereits geblasen war. Im Februar 1956 hatte der sowjetische Parteichef Chrustschow vor dem 20. Parteitag die Verbrechen Stalins offen angesprochen, worin jeder Ungar die Herrschaftstechnik des eigenen Parteichefs Mátyás Rákosi wiedererkannte. Im Herbst 1956 kam es in Polen und Ungarn zu Massenunruhen, die dieselbe Wurzel, nämlich den Haß der Menschen auf den Stalinismus, hatten, jedoch ein konträres Ergebnis zeitigten. In Polen hatten die Sowjets erst den Arbeiteraufstand vom Juni niedergeschlagen, dann aber umfangreichen Revirements in Staat und Partei zugestimmt, die den Nationalkommunisten Wladyslaw Gomulka zurück zur Macht brachten und den sowjetischen Einfluß im Lande minderten. Das konnte sich der Kreml leisten, weil auch die Polen damit zufrieden waren und die Lage in Polen sich beruhigte. Völlig anders verlief die Entwick­lung in Ungarn, wo die Sowjetarmee mit Panzern „Ordnung“ schuf.

Imre Nagy hatte in seiner kurzen Amtszeit als Premier Zehntausende Ungarn aus den Straflagern entlassen, in die sie der paranoide Rákosi hatte einsperren lassen. Nagy war populär, um den nunmehr „Parteilosen“ formierte sich ein einflußreicher Kreis von KP-Oppositionellen, Schriftstellern und Journalisten. Zudem ließ die Partei den „Petöfi-Kreis“ gründen – benannt nach dem revolutionären Dichter Sándor Petöfi (1823–1849) –, der sich umgehend in ein derart kritisches Forum verwandelte, daß er im Juni 1956 wieder verboten wurde. Die Partei war mit ihrem Latein am Ende und verhandelte mit Imre Nagy, die Sowjets wechselten Rákosi gegen den kaum minder verhaßten Ernö Gerö aus, während die intellektuelle Öffentlichkeit ein Gegenmodell à la Tito-Jugoslawien mit Nagy an der Spitze forderte.

Seit dem 17. Oktober war Nagy wieder Parteimitglied, aber tags zuvor war mit dem Studentenverband Mefes eine unabhängige Organisation entstanden, die Wirtschaftsreformen, Amnestie, Mehrparteiensystem, Abzug der Sowjettruppen etc. forderte. Am 23. Ok­tober hielt sie in Budapest eine Großdemonstration ab, die Nagy vergeblich zu beschwichtigen suchte. Mittels Seilen und eines Lastkraftwagens zerrten die Demonstranten das Stalin-Denkmal vom Sockel und wollten ins Funkhaus eindringen, wurden dabei aber von Bewaffneten des Geheimdienstes AVH beschossen. Erstmals rollten auch Sowjetpanzer durch die Straßen, da half auch die in derselben Nacht rasch vollzogene Wahl Nagys zum Ministerpräsidenten nicht mehr.

Am 28. Oktober erkannte Nagy die Revolution offen an, bildete ein Mehrparteienkabinett, forderte die Neutralität Ungarns, versprach parlamentarische Demokratie und vereinigte Armee und Aufständische zur „Nationalgarde“. Die Sowjets waren völlig überrascht, zogen sich zurück und ließen durch ihren Emissär Anastats Mikojan erklären, sie akzeptierten die ungarischen Forderungen. In Moskau konnte Nagy über einen Sonderstatus für Ungarn verhandeln. Wieder daheim, proklamierte er am 2. November die ungarische Neutralität und verkündete den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt. Das war Moskau zu viel: Am 4. November rückten neue sowjetische Panzerverbände in Ungarn ein und schlugen bis zum 15. November den Volksaufstand blutig nieder. Allein in Budapest kamen 20000 Menschen ums Leben. Vergebens rief Nagy die Uno um Hilfe an – die internationale Gemeinschaft war vom zeitgleichen Suez-Krieg so abgelenkt, daß sich kaum jemand um Ungarn kümmerte. Nagy tat, was er noch tun konnte: Er ließ in West-Ungarn Fluchtwege nach Österreich offen halten, die binnen einer Woche 210000 Ungarn den Weg in die Freiheit ermöglichten. Imre Nagy selber suchte Zuflucht in der jugoslawischen Botschaft, die er am 22. November verließ, nachdem ihm der neue Regierungschef János Kádár Straffreiheit zugesichert hatte. Das war eine angeblich mit Tito abgesprochene Finte, und so wurden Imre Nagy und seine Begleiter vom KGB verhaftet. Nagy wurde in Rumänien, das damals noch unter sowjetischer Besatzung stand, interniert. Im Frühjahr 1957 brachte man ihn nach Ungarn zurück, wo er in einem Geheimprozeß wegen „konterrevolutionären Verhaltens“ zum Tode verurteilt wurde. Ein Gnadengesuch zu stellen lehnte er ab, am 16. Juni 1958 wurden er und drei Gefährten im Gefängnis von Budapest gehenkt. In der Haft hatte er ein umfangreiches, wiewohl unvollendetes Manuskript über den Volksaufstand und seine Rolle in diesem verfaßt, das 2004 in Rumänien veröffentlicht wurde.

Imre Nagy wurde an einem anonymen Winkel auf dem Budapester Zentralfriedhof zusammen mit anderen zum Tode Verurteilten verscharrt. Genau am 30. Jahrestag seiner Hinrichtung forderten Hunderte Budapester seine ehrenvolle Bestattung, die am 16. Juni 1989 unter Beteiligung von Hunderttausenden auch stattfand. 1992 brachte der damalige russische Präsident Boris Jelzin sowjetische Dokumente zum „Fall“ Nagy mit und bat die Ungarn offiziell um Entschuldigung.

Fotos: „Den habe ich dicker in Erinnerung“: Nagy-Denkmal auf dem Martyrer-Platz.; Imre Nagy


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren