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07.06.08 / Hohlrollen, Knorren und Pfeiffen / In St. Andreasberg hat der Harzer Roller wieder ein sicheres Zuhause

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 23-08 vom 07. Juni 2008

Hohlrollen, Knorren und Pfeiffen
In St. Andreasberg hat der Harzer Roller wieder ein sicheres Zuhause
von Helga Schnehagen

Wer bei Harzer Roller an Käse denkt, liegt in St. Andreasberg völlig falsch. Hier verbindet man damit Hohlrollen, Knorren, Hohlklingeln und Pfeiffen. So heißen die Haupt-Strophen des Liedes, das rund 100 kleine gelbe, grüne oder gelb-grün gescheckte Vögel jedes Jahr vor strenger Jury im Kurhaus zum besten geben. Den Sieger in diesem Sängerstreit erwartet kein geringerer Titel als Harzer Meister. Ein Titelkampf, der auch dieses Jahr wieder vom 18. bis 23. November stattfinden wird.

Die Teilnehmer dieses Wettstreits tragen das Etikett „Harzer Roller“, eine Kanarienvogelart, die im 19. Jahrhundert – wie der Name schon sagt – im Harz entstand. Als ihr „Vater“ gilt Wilhelm Trute (1836–1889), der sich die Mühe gemacht hatte, die Vogelart mit dem rollenden „R“ im Gesang durch strenge Auslese zu züchten.

Mit der Eröffnung des Harzer-Roller-Kanarien-Museums im Sommer 2001 hat der Harzer Roller in St. Andreasberg wieder ein sicheres Zuhause. Die grandiose Rückkehr des gefiederten Sängers ist vor allem dem Engagement von Jochen Klähn zu verdanken. Der Experte in Sachen Kanarienvogelzucht ist nicht nur maßgeblich für die liebevolle Einrichtung des Museums verantwortlich. Er erklärt auch mit großer Sachkenntnis rund 9000 Besuchern pro Jahr die Geschichte der Kanarienvogelzucht von 1485 bis heute. Dabei führt er sie durch zehn Räume, verteilt auf die drei Stock-werke der ehemaligen Schachtwärter-Wohnung der Grube Samson (täglich von 9.30 Uhr bis 16 Uhr).

Als um 1730 Bergleute aus Imst in Tirol zuwanderten, hatten diese Kanarienvögel im Gepäck. Ein Mitbringsel, für das die einheimischen Kollegen bald starkes Interesse zeigten. Bereits 30 Jahre später blühte in St. Andreasberg die Harzer Kanarienzucht. Vogelhändler mit sogenannten Reffs auf dem Rücken, Tragegestellen mit bis zu 210 kleinen Vogelbauern, bereisten von hier aus ganz Europa. Um 1824 belief sich der jährliche Verkauf schon auf 4000 Kanarienhähne. „Die Weibchen ließ man selbstverständlich zu Hause“, erklärt Jochen Klähn. „Man wollte sich die Zucht ja nicht aus der Hand nehmen lassen.“

Das Zubrot in Heimarbeit machte St. Andreasberg zur Hauptstadt der Kanarienzucht.

In St. Petersburg hatte man 1866 sogar eine Verkaufszentrale ausschließlich für Harzer Roller eingerichtet.

Und von dem Großhändler C. Reiche weiß man, daß dieser 1882 mindestens 12000 Kanarienhähne nach New York ausführte, 10500 nach Südamerika, 5600 nach Australien und 3000 nach Südafrika. Zudem verkaufte er etwa 30000 ins europäische Ausland und 12000 innerhalb Deutschlands.

Zu jener Zeit züchteten 350 der 400 St. Andreasberger Familien Kanarienvögel.

Kaum eine Küche also, an deren Wänden keine Vogelbauer hingen. Schließlich war sie der wärmste Platz im Haus. Und keine Familie, in der die Kinder nicht beim Bau der Käfige halfen.

Erst der Futtermangel im Ersten Weltkrieg brachte diesen lukrativen Nebenerwerb fast zum Erliegen.

Jochen Kähn: „Doch noch bis 1939, bis zum Ausbruch der Vogelpest in den USA und dem damit verbundenen Einfuhrstop, wurden Kanarienvögel aus St. Andreasberg via Hamburg mit der Hamburg-Amerika-Linie versandt. Bis zu 20000 Vögel von

95 Züchtern auf einmal. Richtung Rußland benutzte man Schiffe ab Lübeck. Nach Südamerika, Australien, Südafrika erfolgte der Versand meist über Bremen. Bis 1890, bis es die Eisenbahn gab, war der erste Teil der Strecke zu Fuß zurückzulegen.

Acht bis zehn Tage dauerte etwa der Marsch nach Hameln, von wo aus man die Fracht dann von Weserschiffen weiter transportieren lassen konnte. Vom Verkauf der St. Andreasberger Kanarienvögel via Bremen erzählt auch das Überseemuseum.

Viele Male sind dabei die Frauen mitgegangen. Galten die gemeinen oberharzischen Frauenspersonen doch als vielfältig einsetzbare „Lasttiere“, für die Fußmärsche von 40 Kilometern und mehr keine Ausnahme waren. „Frau“ war damals – notgedrungen – gut zu Fuß! Bis 1920 sind die Harzerinnen oft sogar noch auf den Schiffen mitgefahren, als Küchenpersonal, um so die Überfahrt zu finanzieren.

Ganz verschwunden sind die Züchter bis heute nicht. Etwa 50 von ihnen sind in der Harzer Interessengemeinschaft für Gesangskanarien organisiert. Zwei wohnen in St. Andreasberg. Durch das Museum werden alle ihre Vögel verkauft.“

Mit Glück sieht man bei dessen Besuch junge Kanarienvögel die Schulbank drücken. Denn nur ein Teil ihres Gesangs ist angeboren. Den Rest müssen sie ab einem Alter von sechs Monaten in der „Singschule“ erlernen.

Dazu ist vier bis sechs Wochen volle Konzentration von Nöten. Was bedeutet, ohne Sichtkontakt zu den Artgenossen allein im Käfig – einst im abgedunkelten Gesangsschrank – vier bis sechs Stunden pro Tag dem Vorsänger zu lauschen.

Dem Fortschritt folgend, haben diesen seit langem moderne Tonträger ersetzt, zuerst die Schellack-Platte, heute die CD.

Daß gerade Bergleute eine besondere Beziehung zu den Kanarienvögeln haben, ist kein Zufall. Sie nahmen diese zum Schutz mit unter Tage. Als Meßinstrument. Denn durch ihr Verhalten kündigten die Vögel die lebensbedrohenden schlagenden Wetter an.

„Bis vor zwölf Jahren,“ so Jochen Kähn, „haben in Cornwall noch englische Bergleute Kanarienvögel mit ins Bergwerk genommen.

Im Ruhrgebiet begleiteten sie die Bergleute noch bis 1951 in die Gruben und bis 1961 in die Lampenstuben.“

Foto: Ein Harzer Roller: Kein Käse, sondern Kanarienvogel, der sogar einst Leben rettete.


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