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14.06.08 / Wie entsteht Persönlichkeit / Spannende Spurensuche, die althergebrachte Theorien über den Haufen wirft

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-08 vom 14. Juni 2008

Wie entsteht Persönlichkeit
Spannende Spurensuche, die althergebrachte Theorien über den Haufen wirft
von Rebecca Bellano

Ach, wärst du doch so fleißig wie dein Bruder!“ Derartig anklagend klingende Äußerungen müssen manche Geschwister über sich ergehen lassen. Ja, aber wie kommt es denn, daß Geschwister manchmal so unterschiedlich sind wie Tag und Nacht? Sie haben doch dieselben Eltern, sind im selben Umfeld aufgewachsen. Die US-amerikanische Psychologin Judith Rich Harris ist nur eine von vielen Wissenschaftlern, die sich mit der Frage der Persönlichkeitsentwicklung auseinandergesetzt haben.

In ihrem neuen Buch „Jeder ist anders – Das Rätsel der Individualität“ nimmt sie den Leser mit auf die abenteuerliche Spurensuche. Dabei entzaubert sie viele der bisher gültigen Erklärungsversuche. Ihre meist schlüssigen Argumente versetzen den Leser in Spannung, ihr Schreibstil erhöht die Neugierde auf die Antwort, warum Menschen so sind, wie sie sind.

„An jenem Tag, an dem ich mit dem Schreiben dieses Buches angefangen habe, wurden im Iran Laleh und Ladan Bijani beerdigt – in zwei getrennten Gräbern. Im Tod geschieden, was sie im Leben nie hatten sein können: Laleh und Ladan waren Zwillinge, 29 Jahre alt und am Kopf miteinander verwachsen. Sie starben während des Eingriffs, bei dem sie voneinander getrennt wurden.“

Anhand dieser beiden Frauen nimmt sich Judith Rich Harris der Frage an, warum Zwillinge nachweislich so unterschiedliche Charaktere haben.

„Obwohl eineiige Zwillinge nichts anderes sind als ein Klon, den die Natur geschaffen hat, sind und bleiben Zwillinge für sich selbst, für einander und für die Menschen, die mit ihnen zu tun haben, eigenständige und einzigartige Individuen. Laleh und Ladan hatten dieselben Gene und wuchsen in derselben Umgebung auf, gingen nie getrennte Wege – ihnen blieb nichts anderes übrig –, aber ihre Persönlichkeit, Meinungen und Lebensziele waren nicht dieselben. Es war ihre Individualität, für die sie starben.“

Da die Autorin Wissenschaftlerin ist, nimmt sie sich sehr viel Raum, um zu belegen, warum trotz zahlreicher Forschungen Gene und soziales Umfeld nicht für sich alleine gesehen, aber auch nicht nur in dieser Doppel-Kombination die Persönlichkeit eines Menschen bestimmen. Sie geht dabei auch ausführlich auf Tierversuche ein.

Die Autorin, die schwer krank ist, arbeitet von zu Hause aus. Ihr Computer und ihr Telefon sind ihre Verbündeten. Da sie selbst keine Versuche machen kann, bleibt ihr nichts anderes übrig, als die Versuche ihrer Kollegen zu verfolgen und zu analysieren. In ihrem vorherigen Buch „Ist Erziehung sinnlos? Die Ohnmacht der Eltern“ ist sie unter anderem der Frage nachgegangen, warum trotz allem Bemühen von Eltern manchmal mißratene Kinder dabei herauskommen. Wobei sie ihren Schwerpunkt nicht auf die Frage, „ob“ Erziehung überhaupt stattfindet, setzte, sondern sich auf die Feinheiten des „wie“ konzentrierte. Ihr Fazit gefiel vor allem Sozialpädagogen und Soziologen nicht, da es sie ja praktisch arbeitslos machte.

Die Autorin verglich hierbei auch verschiedene Erziehungsstile der Vergangenheit. „Trotz des weitgehenden Verzichts auf körperliche Züchtigungen sind Erwachsene, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren wurden, nicht weniger aggressiv. Trotz der Zunahme an emotionaler Nähe zwischen Kindern und ihren Eltern – insbesondere zwischen Kindern und Vätern – sind die Kinder nicht glücklicher oder weniger neurotisch. Trotz der Tatsache, daß sie mehr Lob und weniger Kritik einstecken, sind sie nicht selbstsicherer geworden.“ Erkenntnisse wie diese helfen bei der Fragestellung, wie Persönlichkeit entsteht, auch wenn sie mehr Fragen aufwerfen als beantworten.

Nachdem Harris die beiden falschen Fährten, nämlich Persönlichkeit durch genetische Vorgaben oder Erziehung, als solche enttarnt hat, erklärt sie auch, warum weitere Fährten so nicht stimmen können. „Die Interaktion zwischen Genen und Umwelt sind unsere dritte falsche Fährte im Fall der unerklärten Varianz.“ Auch Beziehungssysteme formten nicht maßgeblich die Persönlichkeit.

Problem ist nur, daß Judith Rich Harris’ Buch gegen Ende weniger eindeutig und klar formuliert ist als in der ersten Hälfte. Während anfangs noch Lesevergnügen steht und die Neugierde den Leser selbst über einige etwas wissenschaftlich verfaßte Passagen hinweg trägt,  wird gegen Ende immer deutlicher, daß die Autorin auch keine klaren Alternativen anbieten kann.

1994 sorgte die inzwischen an einer schweren Autoimmunkrankheit Leidende mit einem Artikel in der „Psychological Review“ für Furore. Hierin stellte sie die These auf, daß außerfamiliäre Kontakte, das heißt Spielkameraden und Cliquen, die Entwicklung eines Menschen bedeutend mehr beeinflussen, als es die Familie könne. Inzwischen sieht Judith Rich Harris diese Erklärung auch nicht mehr als einzigen Lösungsansatz, schließlich haben die von ihr selbst herangezogenen Zwillinge Laleh und Ladan ja auch dasselbe Umfeld gehabt und sind trotzdem anders geworden.

„Am Ende eines klassischen englischen Kriminalromans steht in der Regel eine Szene, in der der Detektiv alle handelnden Personen in der Bibliothek eines stattlichen Herrenhaus versammelt und die ganzen losen Enden der Geschichte miteinander verknüpft, wobei er eingehend erläutert, wie der Täter vorgegangen ist …“ Leider kann die Autorin keinen alleinigen Täter präsentieren. „… das Problem ist, daß keine der einfachen Theorien funktioniert … Biologische Prozesse haben sich als verzwickter und unübersichtlicher entpuppt, als man es sich hätte träumen lassen.“ Ihre Lösung ist jedoch eine derart komplizierte Mischung aus Teilen der zuvor angeführten, für sich allein stehend „falschen Fährten“, daß selbst die Autorin Probleme hat, sie klar zu formulieren.

Foto: Die siamesischen Zwillinge Bijani: Gleiche Gene, gleiche Erziehung und trotzdem anders.


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