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© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 25-08 vom 21. Juni 2008
Die Welt auf Schienen entdecken Bahnfahren als Urlaubserlebnis? Das wäre für den englischen Sozialreformer John Ruskin am Ende des 19. Jahrhunderts vollkommen abwegig gewesen. So schrieb er doch: „Eine Fahrt mit der Eisenbahn kann ich beim besten Willen nicht als Reise bezeichnen. Man wird ja lediglich von einem Ort zum anderen befördert und unterscheidet sich damit nur sehr wenig von einem Paket.“ Nur einige Jahre später sollte die wohl berühmteste und längste Zuglinie der Welt in Betrieb genommen werden: die Transsibirische Eisenbahn, kurz Transsib genannt. Über 9000 Kilometer lang ist die Strecke von Moskau nach Wladiwostok am Pazifik, die 2001 ihr offizielles 100jähriges Bestehen feierte. Im Herbst 2007 wagte ich gemeinsam mit einer kleinen Reisegruppe für zwei Wochen das Abenteuer Transsib. Wir wählten die sogenannte transmongolische Strecke mit dem Ziel Peking. Auftakt bildete die Besichtigung Moskaus. Im Herzen der Stadt schlenderten wir über den Roten Platz – Schaubühne geschichtsträchtiger Ereignisse und Spiegel der Macht des einstigen Riesenreiches. Ein Besuch des weltbekannten Lenin-Mausoleums und der Basilius-Kathedrale, ein Rundgang durch das weitläufige Kreml-Gelände und eine Fahrt mit der legendären Moskauer U-Bahn durften ebenso nicht fehlen. Für gutes Wetter hatte die russische Regierung gesorgt und anläßlich der Feierlichkeiten zum Stadtgeburtstag die Regenwolken über der Metropole von Flugzeugen zerschießen lassen. Am Jaroslawer Bahnhof begann die eigentliche Reise, die 8000 Kilometer durch die Weite Rußlands über die Mongolei nach China führte. Am Abend setzte sich unser Zug Nummer 10 „Baikal“ in Bewegung. Die Reiseleiterin erklärte uns, die niedrige Kursnummer stehe für einen besseren Service an Bord. Tatsächlich sorgten in jedem Waggon zwei Zugbegleiter, die Prowodniks, für Ordnung und Sauberkeit, heizten den Wagen, achteten auf kochendes Wasser im Samowar, bewachten bei Zwischenstopps die Wagentüren und gaben Auskünfte über dies und das, wenn man denn wenigstens ein paar Brocken der russischen Sprache beherrschte. Obwohl die nur zwei mal zwei Meter großen Abteile sehr beengt waren und es keine richtige Waschgelegenheit gab, fühlten wir uns bald zuhause. Die Gardinen, die Plastikblumen auf den Tischchen und der lange rote Teppich auf dem Flur strahlten urige Gemütlichkeit aus. Die Kleidung der großen Welt draußen tauschten wir schnell gegen die typische Kluft des Mikrokosmos Transsib ein, bestehend aus Jogginganzug und Badelatschen. Überhaupt hatte die kleine Welt auf Rädern ihre eigenen Regeln. Während wir etwa jeden Tag ein bis zwei Zeitzonen durchquerten, galt im Zug immer Moskauer Zeit. Jenseits von Zeit und Raum vermischten sich die verschiedenen Kulturen. Die Fahrgäste kamen aus aller Welt: aus den verschiedenen Regionen der ehemaligen Sowjetunion, wie Turkmenistan, Kasachstan, Kirgisien, Aserbaidschan und Rußland, aus der Mongolei, aber auch aus Europa und Übersee. Beliebter Treffpunkt war der Speisewagen. Vor allem abends leerte man hier gemeinsam mit den russischen Reisenden das eine oder andere Glas Wodka und verständigte sich notfalls mit Händen und Füßen. Die russische Küche an Bord bestach nicht durch kulinarische Extravaganz. Die Mahlzeiten bestanden überwiegend aus Reis, Eiern, Hühnerfleisch, Suppen und Salat. Wer Abwechslung für den Gaumen wünschte, konnte sich an den Bahnsteigen mit Proviant bei den einheimischen Babuschkas (zu Deutsch Großmütter) ein- decken. Diese boten Spezialitäten, wie hausgemachte Piroggen (gefüllte Teigtaschen mit Quark, Kartoffeln und Weißkohl), Omul (Räucherfisch), Pelmeni (eine Art Ravioli mit Fisch oder Fleisch) oder Blinis (mit Konfitüre, Hackfleisch oder Kavier gefüllte Eierkuchen), feil. Ansonsten vertrieben wir uns die Zeit mit Lesen, Karten spielen, Tee trinken, Kreuzworträtsel lösen und dösen. Bereits nach zwei Tagen stellte sich fernab der alltäglichen Hektik eine angenehme innere Ruhe ein. Meditativ wirkten auch die vorbeiziehende Landschaft der schier endlosen Taiga und die vereinzelten Bauerndörfer, die aus einem vergangenen Jahrhundert zu stammen schienen. Am vierten Tag erreichten wir Irkutsk, das einstige „Paris Sibiriens“, das für seine typisch verzierten Holzhäuser bekannt ist. Nach einem Stadtrundgang fuhren wir am Nachmittag in das 70 Kilometer entfernte, direkt am Baikalsee liegende Fischerdorf Listwjanka. Der nächste Tag begann mit einer Bootsfahrt über das mit 1600 Metern tiefste Süßgewässer der Welt und endete mit einem Besuch des Limnologischen Museums, in dem wir interessante Einzelheiten über den Baikalsee mit seiner einzigartigen Flora und Fauna erfuhren. Am Abend ging es mit der transmongolischen Eisenbahn weiter in Richtung Ulan Bator, der Hauptstadt der Mongolei. Ein Erlebnis der besonderen Art war die Zollkontrolle an der russisch-mongolischen Grenze. Stundenlang stellten Beamte den gesamten Zug auf den Kopf und trugen dabei Schmugglerwaren zu Tage – meist Kleidung und Lebensmittel –, die emsige Mongolinnen und Chinesinnen zuvor sorgfältig versteckt hatten. In Ulan Bator besuchten wir das für seine Saurier-skelett-Sammlung berühmte Naturkundemuseum, den nach dem Revolutionär benannten Suchbaatar-Platz und den Palast des Bogd Khan, dem Oberhaupt des tibetischen Buddhismus in der Mongolei. In einer Nomadensiedlung außerhalb der Stadt nahmen wir eine Auszeit von der touristischen Jagd nach Kulturgütern. Ein altes Hirten-ehepaar begrüßte uns in seinem gemütlichen Jurtenzelt mit einer Prise Schnupftabak und einer Tasse vergorener Stutenmilch. Nachdem wir die gigantische Sandwüste Gobi durchquert hatten, näherten wir uns der vorletzten Etappe unserer Reise: Datong. Dort bewunderten wir die frühen buddhistischen Höhlentempel der Yungang-Grotten und das mitten in eine Felswand gebaute Hängende Kloster. Die letzten beiden Tage verbrachten wir in der chinesischen Hauptstadt Peking. Höhepunkte waren hier die Besteigung der Großen Mauer und die Besichtigung des Kaiserpalasts, des Himmelstempels sowie der Verbotenen Stadt. Am Ende stiegen wir in den Flieger nach Deutschland mit dem einmaligen Gefühl, für ein paar Tage dem Alltagstrott auf dem Abstellgleis entflohen zu sein und das Leben in vollen Zügen genossen zu haben. Foto: Fährt die 9000 Kilometer von Moskau nach Wladiwostok: Die Transsibirische Eisenbahn |
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