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28.06.08 / Immer die falschen Rezepte / Das Bildungssystem wird den Kindern nicht gerecht – Die Begabungen werden ignoriert

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 26-08 vom 28. Juni 2008

Immer die falschen Rezepte
Das Bildungssystem wird den Kindern nicht gerecht – Die Begabungen werden ignoriert
von Christa Meves

Die deutschen Schulen befinden sich in einer bedenklichen Krise. Daß dieses Faktum in der Öffentlichkeit so wenig zum Ausdruck kommt, liegt daran, daß die Beteiligten – die Lehrer, die Schüler und deren Eltern – trotz eines erheblichen Pegels an Bedrängnis, Unmut, ja Leid und Schmerz in einer wenig zeitgemäßen Weise stillhalten und die Unbill der Situation, von einigen kargen Boykott-Ausnahmen abgesehen, resigniert schlucken, so als handle es sich um ein unabänderliches Schicksal.

Dabei war das im letzten Jahrhundert bis zum Beginn der 70er Jahre in Deutschland existent: Überschaubare Schule mit einem brauchbaren Leistungssystem und einer verhältnismäßig kindgerechten Pädagogik. Wie wenig aber heute das Schulsystem seinem Auftrag gerecht wird, ist an zwei zutiefst bedenklichen Symptomen erkennbar: Über eine Milliarde Euro werden in Deutschland derzeit für Nachhilfestunden ausgegeben. Ein neuer Stand hat sich entwickelt, nicht nur als Zubrot für rüstige Pensionäre allein. Private Nachhilfeinstitutionen sind zumindest in Norddeutschland selbst in Kleinstädten und Flecken wie Pilze aus dem neuen Nährboden geschossen. Und in einer erheblichen Zahl werden die Schulkinder mit der Diagnose ADHS (früher nannte man das Zappelphilipp) unter eine Hirndroge (das stark wirkende Medikament Ritalin) gesetzt – damit sie in der Schule die nötigen Lernerfolge aufweisen. Tonnenweise, so berichtete jüngst ein Experte, würde Ritalin auf den deutschen Markt geworfen, ohne daß bekannt sei, wie die Spätfolgen dieser Medikation aussehen.

Eindrucksvoll wird das Unzureichende der Schulsituation auch durch das Auftauchen weiterer Gewerbe sichtbar, die aus der Not lukratives Kapital zu schlagen suchen: Zum übermäßigen Gebrauch von Psychopharmaka kommt jetzt ein Boom von angepriesenen Mitteln zum Schulerfolg, die einen magischen Hintergrund haben. Von der Bach-Blüten-Therapie gegen Verhaltensstörungen, vom „Brain-Gym“ und einer sogenannten (und seltsam geschriebenen!) „Kinestetik-Bewegungslehre“ bis zum entängstigenden Edelstein in der Schultasche gegen Klausurenangst ist hier mittlerweile viel Bedenkliches möglich geworden. Es hat sich ein ganz neuer Markt entwickelt.

Symptome dieser Art sollten die Verantwortlichen alarmieren. Das muß zumindest in den Kultusministerkonferenzen endlich auf den Tisch: Es ist eine Schulsituation entstanden, die dringend einer realistischen Analyse und einer umfänglichen Reform des Schulsystems bedarf; denn es klafft eine verheerende Lücke zwischen der Soll- und der Ist-Situation im Schulbereich. Dieses ist zwar nördlich des Mains erschreckender als südlich davon; und dennoch können Bayern und Baden-Württemberg als Fluchtburgen für bewegliche Familien auch bereits nicht mehr gelten. Echte Ausweichmöglichkeit ist vielmehr karg gesät und auf einige private, meist katholische oder evangelikale Schulen sowie auf in- und ausländische Internate beschränkt.

Es ist dringend an der Zeit, daß aus der negativen Schulentwick­lung der vergangenen 35 Jahre Bilanz gezogen und die Ursachen ohne Beschönigung ans Licht gebracht werden. Die Misere der Schule hat eine Haupursache: die über den „Marsch durch die Institutionen“ tief ins Schulgefüge eingedrungene Gleichheitsideologie. Sie hat eine negativ wirkende Lüge an die Stelle der Wahrheit gesetzt; denn auf ihrem Boden ist die Verschiedenheit angeborener Begabungen nur noch unzureichend in Rechnung gestellt worden, und zweitens hat man seitdem verlernt, unterschiedliche Stadien der kindlichen Entwicklung zu berücksichtigen und sich realistisch auf sie einzustellen. Die Vereinheitlichung des Schulsystems, die diesem falschen Ansatz entsprang, hat außer vielen anderen unguten Auswirkungen vor allem die Überlastung der höheren Schulen mit Schülern bewirkt, denen es an der dort zu fordernden Leistungsfähigkeit fehlt – entweder, weil es ihnen an der notwendigen rational-logischen Intelligenz mangelt, oder weil ihre Leistungsfähigkeit durch psychische Beeinträchtigung unzureichend ist. Diese haben sich im Zeitalter der Vernachlässigung und des übermäßigen Fernsehkonsums, der Video-Spielsucht und der PC-Versessenheit gesteigert.

Unter dem Schlagwort, daß es möglich sei, Kinder zu „begaben“, werden dennoch Schülerscharen am Rande des Leistungsminimums bis zum Abitur mitgeschleppt und schließlich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auch mit ihm ausgestattet. Und dann bricht das Desaster herein: Laut Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) entschwinden den Hochschulen bis zu 50 Prozent  der Studierenden ohne Abschluß.

Dieser Entwicklung eines arbeitslosen akademischen Proletariats hat die Kultusministerkonferenz seit dem Pisa-Schock mit neuen Vorschriften zu begegnen versucht, und zwar vornehmlich mit einer Aufstockung der Leistungskontrollen. Tests, Klausuren, Jahresarbeiten, Klassenarbeiten in fast allen Schulfächern türmen sich seitdem vor Lehrern und Schülern auf, in einer solchen Unzahl, daß sie nicht im Entferntesten innerhalb des Schulunterrichts hinreichend vorbereitet werden können, jedenfalls nicht so, daß die sich schwertuende Mehrheit der Klasse dem geforderten Soll gewachsen sein kann. Im Zentralabitur werden in den naturwissenschaftlichen Fächern Themen vorausgesetzt, denen die Schüler im Unterricht nicht begegnet sind.

Das Chaos bewirkt einen jämmerlichen Zensurendurchschnitt, bewirkt die Entstehung von Angst oder Abgestumpftheit bei den Schülern, bewirkt Ratlosigkeit und Neigung zum „Schönen“ der Klausuren-Durchschnitte (damit sie nicht wiederholt werden müssen!) bei den Lehrern und ständig neue Schulsorgen bei den Eltern.

Dies aber bewirkt auch eine weitere Herabsetzung der Leistungsmotivation besonders unter den zartbesaiteten Schülern (und das sind die intelligenteren!), vor allem durch den Ärger mit ihren Eltern, die ihre Kinder durch Schimpfen anzutreiben suchen.

Daß auf diese Weise die vielen praktisch, musisch, künstlerisch oder sozial Begabten auf ein ihnen nicht gerecht werdendes, ihre Begabung unzureichend förderndes Gleis geschoben werden, ist ein besonders verbitterndes Faktum, ganz abgesehen davon, daß diese Art der Schulwirklichkeit auch keineswegs ein angemessener Nährboden für Überflieger – und das heißt für Hochbegabte – ist, auf die jede Gesellschaft im Konkurrenzkampf mit anderen angewiesen ist. Elite-Kinder haben sich im Schuleintopf so unscheinbar wie möglich zu verhalten (indem sie z. B. mit Absicht Fehler machen), um nicht von der Klasse (und oft sogar unisono von ideologisierten Lehrern!) als Außenseiter abgestempelt zu werden.

Die „progressive“ Schule sollte sich in später Stunde eingestehen, daß sie mehr als veraltet ist. Die Gleichheitsideologie hat sich einmal mehr auf diesem so wichtigen Sektor als schädlich erwiesen, weil sie der Realität der so verschiedenen Kinder und Jugendlichen nicht entspricht. Das Kurssystem in den beiden letzten Jahren vor dem Abitur mit der freiwilligen Wahl der Leistungsfächer durch die Schüler bewirkt bei vielen von ihnen keine Auswahl nach Fächern, die zum angepeilten Studium führen (wie geplant), sondern führt verständlicherweise zu einem opportunistischen Vorgehen: Den Maßstab bildet das berechtigte Streben der Schüler nach dem besten Notendurchschnitt im Abitur, um mehr Chancen für den Einstieg zur Berufsausbildung zu erlangen.

So verfehlt unser Schulsystem sein Ziel, es fördert nicht optimal, es erhöht nicht durch angemessene Angebote den Lerneifer der Schüler, sondern es bringt ihn systematisch zum Schwinden. Es züchtet Verlierer statt Leistungseliten, die der Weltkonkurrenz gewachsen sind. 

 

Die Autorin Christa Meves (Uelzen) ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin


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