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28.06.08 / »Weißt du noch?« / Ein Vorsommer in Cranz

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 26-08 vom 28. Juni 2008

»Weißt du noch?«
Ein Vorsommer in Cranz
von Gertrud Papendick

Weißt du es noch, mein Herz? Ich war acht oder neun oder zehn – durch viele Jahre ist es so gegangen – es war im Juni, und die Eltern hatten mich aus der Schule genommen; vielleicht wegen Blutarmut, vielleicht aus Bequemlichkeit, ich weiß das nicht mehr, jedenfalls muß es ohne Schwierigkeiten möglich gewesen sein. Tante Minna, deren Zirkel ich besuchte, pflegte sich durch Ferienaufgaben zu rächen; doch das war nicht schlimm: Sie versanken im Augenblick für viele, viele Wochen im Seesand der Vergangenheit.

Wir wohnten im ersten Haus der Korsostraße, das die großen Glasveranden hat. An der Seite war ein Zelt und dahinter ein Rasenplatz, und hinter dem Haus war eine Wiese – die Wiese meiner Kindheit, sie reichte fast bis zum Strand. Sie ist heute nicht mehr da. Die Wohnung war so geräumig und hell und hatte doch jenen feuchten, ach, so geliebten Modergeruch, den die Häuser an der See auch im heißesten Sommer niemals verlieren. Nach wenigen Tagen fingen die Schuhe im Schrank an zu schimmeln. Von der Küche gab es ein Guckfenster nach vorne, durch das die Schüsseln gereicht wurden. In dem Durchgangskabinett stand ein schwarzes Wachstuchsofa mit weißen Knöpfen, auf dem Auguste schlief. Sie schlief dort Sommer für Sommer in zusammengekrümmter Lage, bis ihr ganz zuletzt einmal der Mechanismus der aufklappbaren Seitenlehnen aufging oder beigebracht wurde. Doch da war es zu spät: sie hatte ausgelitten und heiratete.

Ich hatte ein Spannbett. Ich weiß nicht, ob ihr wißt, was das ist. Es ist ein Stück Sackleinwand, zwischen zwei Bettpfosten gespannt, im günstigsten Falle noch mit einer Seegrasmatratze belegt. Man liegt im Spannbett wie in einer Mulde, nein, wie im Graben, man kann sich nicht rühren und ist geborgen. Für mich war das Cranzer Spannbett ein Symbol, und der erste Schlaf und das erste Erwachen darin erfüllten die Sehnsucht langer Monate. Das Spannbett bedeutete Sommer und Sand und See und die Luft, die sonst nirgends war, es bedeutete Freiheit und Stille und das namenlose Glück des Alleinseins.

Die Tage des Juni waren oft noch kühl und manchmal trübe und feucht. Ich mußte ein Winterkleid tragen – schwarzrot gestreift und ganz und gar scheußlich – und zuweilen einen Mantel. Doch das bedeutete nichts. Nichts war es gegen die Lust, auf der langen, leeren Uferpromenade das Klickklack der eigenen Absätze zu hören. Wenn die Sonne schien, dann dufteten die neu eingefügten Bohlen nach warmem, trockenem Holz und nach frischem Teer. Es gab noch keine Menschen oder nur ganz wenige, alles gehörte mir: die Wege durch die Plantage und weiter in den Wald, der Duft der „Fichten“, wie wir die Kiefern nannten; die alten Straßen im Dorf, der Marktplatz mit den Bauernwagen; die Mühle am Weg nach Rosehnen, wo das kleine Kätzchen war, die ausgespannten Netze und der Rauch der Flundern. Ich trieb mich den ganzen Tag herum und wurde tief im Innern ein seliger Vagabund. Man ließ mich gewähren, und das einzige Verbotene war die Gegend um den Ziehbrunnen, der ein Gegenstand unmittelbarer Lebensgefahr gewesen sein muß. Zu Hause hieß ich das „stille Kind“, ich sprach nicht gern und meistens überhaupt nicht, und ich glaube, in diesen Wochen verlernte ich das Sprechen ganz und gar. Ich war erfüllt und tief beschäftigt: Spaten und Eimer und eine Wasserburg am Strande mit einem Festungsgraben; verwehte Haare und immer nasse Schuhe. Ich kauerte manche Stunde auf einer Bank des Seesteges, an dessen Pfähle unaufhörlich gluck­send das Wasser schlug, und spann hundert Träume in die Ferne und in das unbegreifbare, fremde Leben. Ich stand und sah und sah – Wasser und Wasser, Himmel und Wolken, zuweilen ein Segel und sonst nichts mehr. Damals gewann mein Herz die große, die grenzenlose Liebe zur See, die immer nur Sehnsucht bleibt.

Wenn dann die großen Geschwister zu den Ferien kamen und das Haus voll wurde, wenn Hunderte von Menschen sich über den Strand ergossen, dann war die Stille dahin – das Schönste war gewesen.

Jene Tage des Vorsommers, mein Herz denkt heute noch dran, wie es damals war – sie waren nicht Traum oder Spiel, Erwartung oder Sehnsucht, sie waren alles zusammen und viel, viel mehr: sie waren das Glück der Kindheit!


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