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28.06.08 / Gesungene Glasnost: Russische »Tschastuschki« / Die Franzosen haben ihre Chansons, die Russen haben ihr eigenes musikalisches Pendant

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 26-08 vom 28. Juni 2008

Gesungene Glasnost: Russische »Tschastuschki«
Die Franzosen haben ihre Chansons, die Russen haben ihr eigenes musikalisches Pendant
von Wolf Oschlies

Andere Völker haben Lieder, nur Franzosen haben Chansons“, schrieb um 1860 Teophil du Mersan, der große Sammler und Herausgeber französischer Liedfolklore. Ähnlich volksspezifisch sind russische „Tschastuschki“, die noch ihrer großen Sammlung, Interpretation und Edition harren. Natürlich gibt es gesammelte Tschastuschki en masse, aber das sind gesäuberte, gefilterte Ausgaben einer Volkskunst, die sich in ihrer Gesamtheit als Spiegel russischen Lebens und Leidens über Jahrhunderte hinweg erweist.

Mit „Schnaderhüpferl“ wird „Tschastuschka“ in Wörterbüchern wiedergegeben und literaturwissenschaftlich definiert als „Produkt oraler Volkspoesie, meist aus zwei oder vier Reimen bestehend, lyrisch, aufrührerisch oder scherzhaft im Inhalt und in einer charakteristischen Weise gesungen“. Ihren Namen bekam sie von dem Adjektiv „tschastyj“ (oftmalig, wiederholt), eben weil sie so oft gesungen wurde. Ganz im Sinne du Mersans ist sie eine „chanson rustique“, ein Dorflied, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum populären Gegenstück lyrischer Lieder wurde. Sie bezog ihre Themen aus dem Alltag, und der verhieß nur Armut, Fronarbeit, Unwissen – selbst die städtischen Tschastuschki waren nur eine Variante der ländlichen, die aus der Dorfperspektive die große Welt kommentierten. Auffallend viele galten dem russischen Übel, der langen Wehrpflicht, was dann so klang: „Ach, glaubt niemandem ein Wort / schön sei’s Leben der Soldaten / vier, fünf Jährchen war ich dort / und kann keinem dazu raten.“

Das 20. Jahrhundert begann mit dem verlustreichen Russisch-Japanischen Krieg 1904 bis 1905, dem 1914 der Erste Weltkrieg folgte. Kriege und Kriegsherren, Siege und Niederlagen, alles besangen die Tschastuschki, deren eine sogar in Kriegsgeschichten Eingang fand: „Lebt wohl, ihr Brüder und ihr Vettern / scharf sind der Deutschen Bajonette / jagen uns durch die Karpaten / tot sind viele Kameraden“. Überhaupt spielen Deutsche eine große Rolle in den Tschastuschki: „An der Grenze auf die Deutschen / hat mein Liebster scharf geschossen / und zuletzt fürs heil’ge Rußland / noch sein heißes Blut vergossen.“ Oder heroischer: „Gebt, ach gebt mir die Mus-kete / und ein graues Pferd dabei / daß ich Kaiser Wilhelm töte / dann ist der Krieg sofort vorbei.“

Der Krieg war 1917 mit der bolschewistischen Revolution vorbei, der ein langer und blutiger Bürgerkrieg folgte. Die Bolschewiken bemächtigten sich der Tschastuschka und ließen sie „Errungenschaften“ besingen: Land für die Bauern, Elektrifizierung, Alphabetisierungskurse etc. Erst mit dem Aufkommen des Stalinismus fand die Tschastuschka zu alter Souveränität zurück, wie mir der russische Folklorist Wladimir Bachtin (1923–2001) einmal in einem Gespräch an vielen Beispielen demonstrierte. Anfangs klang es noch heiter: „Ich kann als schönes Mädchen / in roten Stiefeln geh’n / ich kenne keinen Stalin / und will ihn auch nicht seh’n“. Mit dem inszenierten Mord an dem Leningrader Parteichef Kirow begann Mitte der 1930er Jahre der große Terror, den die Tschastuschka so kommentierte: „Das Flugzeug schwebt/ hoch überm Tal hin / da Kirow nicht lebt / stirbt hoffentlich Stalin.“        

„70 Jahre hat dieses volkstümliche Wort sein eigenes Leben gelebt“, schrieb 1991 die Moskauer Illustrierte „Ogonjok“, „sich den offiziellen Lügen widersetzt. Das einfache Wortgewebe der Tschastuschki erwies sich als solider als jene Wahrheiten, die so lange als ewig ausgegeben wurden.“ Aus Tschastuschkis könnte man die ganze Geschichte Rußlands im 20. Jahrhundert rekonstruieren, wenn man sie denn alle aus dem konspirativem Halbdunkel ihrer Entstehung und Verbreitung herausholte, etwa dem der Gefangenen in sowjetischen Todeslagern jenseits des Polarkreises: „Ach Kolyma, ach wir Sünder / auch wenn unter uns ein Frommer / Monde zwölf ist dorten Winter – / und was übrig bleibt, ist Sommer“.

War die klassische Tschastuschka wehmütig, so griff in den spätsowjetischen Zeiten ein hintergründiger Witz Raum, der die „geliebten Führer“ gnadenlos aufs Korn nahm und den alltäglichen Propagandarummel ironisierte, zum Beispiel den um den ersten „Kosmonauten“ Juri Gagarin in den 1960er Jahren: „Wir sind stolz, daß der Gagarin / nicht entstammte den Tataren / kein Usbeke, kein Tunguse / er ist unser, ist ein Russe!“ Etwa später durften Hunderttausende Juden ausreisen, wozu die Tschastuschka beobachtete: „In der Jungfer Brüsten / tobt ein schmerzlich Zieh’n / weil die Traktoristen / nach Israel entflieh’n.“ Zudem operierte die Tschastuschka immer mehr mit erotischen Anspielungen, was sie endgültig in den Gegensatz zur stets prüden russisch-sowjetischen Kulturpolitik brachte.

Die Taschastuschka singt, wie Russen reden und fluchen – ungemein derb, herrlich direkt und exhibitionistisch schamlos. Diese Texte werden erst allmählich veröffentlicht und auf ihre adäquate Übersetzung werden sie wohl lange warten müssen. Ich jedenfalls wage nur, ein Wortspiel mit zwei Grundbegriffen von Gorbatschows Politik anzuführen: „Schwung meine Liebste brachte / in unsere Vereinigung / wo sie an Perestrojka dachte / war ich mehr für Beschleunigung.“

Nach Gorbatschow kamen Jelzin und Putin und mit ihnen die „neuen Russen“ – schwerreiche und strohdumme Krisengewinnler, über die es bereits ungezählte Witze gibt, auch schon die ersten und sehr deutlichen Tschastuschki: „Mein neuer Freund ist wirklich mächtig / er gefällt mir auch ganz prächtig / Goldschmuck, Handy, toller Zwirn / und ein Einschußloch im Hirn.“


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