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05.07.08 / Fernab der brodelnden Stadt / Auf den Spuren von Einwanderern, Astronomen und Serienmördern: Mit dem Fahrrad durch den Londoner Osten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 27-08 vom 05. Juli 2008

Fernab der brodelnden Stadt
Auf den Spuren von Einwanderern, Astronomen und Serienmördern: Mit dem Fahrrad durch den Londoner Osten
von Robert B. Fishman

London mit dem Fahrrad? Kein Problem. Die City ist sonntags fast leer und für die anderen Tage gibt es Parks, Treidelpfade an alten Kanälen und sogar Radwege.

Mit einem leisen Klappern quittieren die lockeren Betonplatten jeden Meter, den die Räder zurücklegen. Der Weg am Regent’s Canal ist gerade mal 1,50 Meter breit. Radfahren verboten steht immer mal wieder auf Schildern am Wegesrand.

Links wächst dichtes Gestrüpp, rechts tuckert ab und zu eines der bunt angestrichenen Hausboote durch das schwarzbraune Wasser des Regent’s Canal, der sich in der Ferne vor den Wolkenkratzern der Docklands zwischen backsteinernen Reihenhäuschen und Fabrikgebäuden verliert.

Die vielen steinernen Brücken, die die Städtebauer vor 100 oder 200 Jahren über den Kanal geschlagen haben, sind nur in der Mitte hoch genug für die kleinen Fracht- und Hausboote, die im Einbahnverkehr Richtung Innenstadt oder hinaus in die Dock-lands jenseits des Londoner East Ends fahren. Am Ufer bleibt nur Platz für eine Person, die sich gebückt am Wasser entlang unter dem Brückenbogen hindurchzwängt. Wer entgegenkommt muß warten, Radfahrer sollten den Kopf einziehen und schieben.

„Nein, nein, die werfen wir wieder zurück“, kommentierte der alte Mann seinen spärlichen Fang, ein handkleines Fischlein. Den ganzen Tag schon sitzt er hier wie viele ältere Herren auf einem Klapphocker und hält seine Angel ins Wasser. „Es ist Entspannung, ich bin an der frischen Luft und genieße die Sonne“, freut sich der Rentner. Der laue Wind schiebt große Wolken über den blauen Himmel. Die Blätter der uralten Bäume am Kanal werfen ihre Schatten auf den Uferweg.

Das Londoner Zentrum mit seinen Staus und dem Gedränge in der U-Bahn ist Welten entfernt. Little Venice, Klein Venedig, nennt sich die Stelle, wo der Kanal so breit wird, daß mehrere der bunten Hausboote, meist umgebaute alte Frachtkähne, nebeneinander in der Sonne dümpeln können. Am Ufer haben Wirte ihre Stühle nach draußen gestellt und servieren im Schatten der Bäume Kaffee und kleine Speisen. Hier beginnt die Radreise entlang dem Kanal zum Camden Lock, der schwarz-weiß gestrichenen eisernen Schleuse, durch die heute vor allem Haus- und kleine Freizeitmotorboote fahren.

In den Galerien der alten Fabrikgebäude am Camden Lock haben moderne Cafés und Läden eröffnet, die Touristenandenken, Kifferutensilien und Kunsthandwerk aus Asien und der Karibik verkaufen. Eine junge Frau massiert Passanten mit einem festen metallenen Netz die Kopfhaut. Eine andere bietet auf einer mobilen Liege Fußreflexzonenmassagen an.

Die Leckereien der pakistanischen, indischen, chinesischen und nepalesischen Garküchen duften nach Curry, Kardamom und anderen exotischen Gewürzen. Auf der braunroten Back-steinbrücke, die den Markt mit der an Klamotten- und Designerläden reichen Camden Street verbindet, hält ein Punker ein Werbeplakat für Doc-Martens-Schuhe hoch. „Kostet ein Pfund“, mault er Touristen an, die seinen knallroten Irokesenhaarschnitt fotografieren wollen. Seine grünhaarige Freundin ruft den Passanten Schmähungen nach.

Seltener verirren sich Touristen auf die Brick Lane tief im Londoner Einwandererviertel East End. Auf dem Straßenmarkt verkaufen Araber, Afrikaner, Immigranten aus der Karibik und aus Südasien Leckereien aus ihrer Heimat, Möbel, gebrauchten Hausrat,

T-Shirts, Fußballfahnen und den neuesten Plastikramsch. Neben englischen Pubs finden sich moderne Designercafés, ein Biergarten vor einer zum Konzertsaal umgebauten Fabrik und eine marokkanische Teestube. Auf Kissen an den niedrigen Tischen trinken vor allem Männer in weißen Gewändern ihren Pfefferminztee.

Lange bevor die ersten Einwanderer aus Übersee nach London kamen und so wunderbare Restaurants wie das pakistanische Tayyabs (www.tayyabs.co.uk; Wer hier Alkohol trinken will, muß ihn selbst mitbringen) eröffneten, zog eine berühmte Gruselgestalt durch das Viertel: Jack the Ripper soll 1888 in den Seitenstraßen des East Ends fünf Frauen erstochen und mit seinem Messer verstümmelt haben.

Nüchtern und präzise wie in einem Obduktionsbericht beschreibt Fiona, eine freie Schauspielerin und Jonglierlehrerin, auf ihrer Führung den elenden Alltag am Ostrand der Londoner Innenstadt. Als Tagelöhner schufteten die meisten in den nahen Fabriken und Docks 17 Stunden am Tag. Der Lohn: zehn Pence. Ein Zimmer kostete 50 Pence die Woche.

So lebten viele auf der Straße oder übernachteten in Flop Houses.

Für zwei Pence die Nacht hatten sie dort ein Dach über dem Kopf und schliefen halb stehend an Seile gelehnt. Um zu überleben, mußten sich viele Frauen auf dem Straßenstrich verdingen.

Auf dem Weg durch Gassen im East End erfahren die Touristen, daß von den damals 800000 Londonern 11000 kein Obdach hatten. Jedes zweite Kind starb, bevor es fünf Jahre alt war.

Unvorstellbar angesichts des neuen East Ends: Immer weiter frißt sich die City mit ihren glitzernden Glas-Beton-Bürotürmen in das ehemalige Arbeiter- und heutige Einwandererviertel.  Block um Block wurde abgerissen und durch moderne Bürohochhäuser ersetzt. Was vom alten East End geblieben ist, wird luxussaniert. Eine Million Pfund (rund 1,6 Millionen Euro) kostet eines der frisch sanierten „Hugenottenhäuser“ mit vier Zimmern. Um 1750 bauten die protestantischen Flüchtlinge aus Frankreich die zweistöckigen Reihenhäuser mit den großen Fenstern. Für eine 2-Zimmer-Wohnung in der zu Lofts umgebauten ehemaligen Brauerei oder dem einstigen Obdachlosenasyl zahlt man eine Viertel Million Pfund.

Von den verwinkelten Hinterhöfen, in denen Jack the Ripper seine Verbrechen beging, sind nur noch wenige übrig. Zwischen den dunklen Backsteinmauern verbinden 1,50 Meter schmale, finstere Gänge Häuser, in denen früher acht oder zehn Menschen in einem Zimmer ohne Strom und Wasser lebten. Fiona bleibt auf ihrem Rundgang immer wieder überraschend stehen und erzählt ganz trocken, wie der Mörder hier sein Opfer packte, erstach, ihm das Herz herausschnitt oder die Eingeweide herauswühlte. Detailliert berichtet sie von den zahlreichen vergeblichen Versuchen, die Morde aufzuklären, von Mythen, Legenden und Verschwörungstheorien, die in den vergangenen 100 Jahren auf die Spur des Killers führen sollten.

Keine zehn Fahrradminuten weiter erinnert nichts mehr an die Gruselgeschichten aus den Archiven von Scotland Yard. An der Themse reihen sich Londons neue und alte Prachtbauten wie die Tower Bridge, die an eine riesige, düstere Fabrik erinnernde Tate Modern Gallery, die blau glitzernde City Hall, das Riesenrad London Eye mit seinen silbrig-weiß glänzenden Kabinen oder das Parlamentsgebäude.

Nach Osten ist es mit dem Rad über ruhige Seitenstraßen nicht weit in die futuristischen Dock-lands: Gewagte Hochhauskonstruktionen privater Investoren, die hier in den 80er Jahren angeblich 25 Milliarden Pfund verbauten.

Von den Docklands führt ein Tunnel unter der Themse in eines der letzten Londoner Dörfer, Greenwich Village. Im eingezäunten Hof des Königlichen Observatoriums markiert ein goldfarbenes Metallband das Herz eines untergegangenen Weltreichs: den Nullmeridian. Britische Forscher bestimmten die Linie im Hof der Akademie zum Ausgangspunkt der bis heute auf allen Landkarten verzeichneten Längengrade um die Erde. An einem ruhigen Werktag kann man vom Observatorium aus bequem den Hügel  durch das kleinstädtische Greenwich hinunterrollen. Radfahren erlaubt.

Foto: Alt neben neu: Immer weiter fressen sich die modernen Bürogebäude in das Herz der Stadt an der Themse.


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