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16.08.08 / Das Gewissen unserer Zeit / Nachbetrachtungen zum Tode von Alexander Solschenizyn

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 33-08 vom 16. August 2008

Das Gewissen unserer Zeit
Nachbetrachtungen zum Tode von Alexander Solschenizyn
von H.-J. Mahlitz

Das Gewissen Rußlands, das Gewissen der Welt, das Gewissen des 20. Jahrhunderts – ist es vermessen, einem Menschen solch moralische Last aufzubürden? Auf Alexander Solschenizyn gemünzt war das Wort vom „Gewissen Rußlands“, wie Reinhard Meier, der Rußlandexperte der „Neuen Zürcher Zeitung“, sich erinnert. Und es stammte ausgerechnet von einem Repräsentanten der Sowjetmacht, die den dichtenden Dissidenten gerade des Landes verwiesen hatte. „Er ist unser Gewissen“ – daraus spricht mehr als nur die Angst des diktatorischen Ungeistes vor der Kraft des freien Wortes oder der klammheimliche Respekt vor der mutigen Unbeugsamkeit des politischen Gegners. Daraus spricht auch die bittere Erkenntnis, selber auf der falschen Seite zu stehen, das sprichwörtliche „schlechte Gewissen“, geweckt von einem, der in entscheidenden Momenten stets auf der richtigen Seite stand und nie danach fragte, welch hohen Preis er selber dafür zahlen mußte.

Auf der Suche nach Wahrheit ließ Solschenizyn sich nie von den Bequemlichkeiten der Unwahrhaftigkeit blenden. Als 25jähriger Soldat erlebte er den Vormarsch der Roten Armee in Ostpreußen. Schon damals sah er Opfer und Täter nicht nur da, wo Demagogen wie Ilja Ehrenburg sie in ihren Haßtiraden einsortiert hatten.

Was die Soldateska, deren Uniform auch er selber trug, wehrlosen deutschen Frauen, Kindern und Greisen antat, empörte sein Gewissen. Dies und auch sonst manch Kritikwürdiges an Stalins Terrorherrschaft behielt er nicht für sich, und dafür mußte er büßen. Noch von der Front weg wurde er verhaftet, zu acht schlimmen Jahren in einem sibirischen Straflager verurteilt, danach für weitere vier Jahre in die kasachische Steppe verbannt.

Wie an der Front in Ostpreußen, so blieb Solschenizyn auch in Haft und Verbannung sich selber treu; dem Regime gelang es nicht, seinen starken Charakter zu brechen. Im Gegenteil: Sein Hauptwerk „Archipel GULag“ konnte wohl nur deshalb so eindringlich und authentisch geraten, weil dieser Autor sich total darauf konzentrieren konnte, zu beschreiben, was in dem roten Riesenreich wirklich geschah. Er brauchte keine Phantasie, er brauchte nichts zu erfinden, er hatte alles selbst erlebt und erlitten. Was ihn aus dem Kreis anderer Zeitzeugen heraushebt: Er hatte neben der moralischen Kraft auch das schriftstellerische Potential, seiner Beschreibung der Wahrheit einmaligen literarischen Rang zu verleihen. Der Nobelpreis, den er 1970 zugesprochen bekam, aber erst nach der Ausbürgerung 1974 entgegennehmen konnte, war die gerechte und verdiente Bestätigung dieses Ranges (was man ja nicht von allen Literaturpreisträgern behaupten kann).

Solschenizyns Stil und Sprache sind eher unspektakulär. Er schwelgt nicht in bombastischen Wortgemälden, läßt kaum je knisternde Spannung aufkommen. Aber er fesselt den Leser auf eine subtile Weise. Stets ist es der Alltag, den er zwischen den sensationellen Höhe- und Tiefpunkten des Lebens zu Tage fördert: der Alltag im GULag, der Alltag im Krieg, der Alltag im Krankenhaus oder auch mal der Alltag im Exil. Also sein eigener Alltag während 20 quälendlanger Jahre – 1974 ausgebürgert, lebte er zunächst in Deutschland und der Schweiz, dann in den USA, 1994 endlich kehrte er zurück nach Rußland.

Hier lernen wir einen anderen Alexander Solschenizyn kennen, den Patrioten, der sich aber aus striktem Antikommunismus gegen sein eigenes Vaterland wendet. Nie geht er den einfachen Weg. Niemandem macht er es leicht, weder Feinden noch Freunden noch sich selbst. Stalins Schergen und Breschnews Apparatschiks schaffen es nicht, ihn mundtot zu machen. Er kann ihnen widerstehen, weil er die innere Kraft hat, ohne weinerliches Selbstmitleid jahrzehntelange Verfolgungen und Demütigungen zu ertragen.

Aber auch von – wirklichen oder vermeintlichen – Freunden läßt er sich nicht vereinnahmen. Mit anderen sowjetischen Dissidenten wie dem Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow oder dem Dichterkollegen Lew Kopelew (den er im GULag kennengelernt hatte) verband ihn allenfalls gegenseitiger Respekt. Während der Jahre im Exil hielt er strikte Distanz zu allen, die ihn zum Vorkämpfer eines westlichen Demokratieverständnisses umfunktionieren wollten. Nie machte er ein Hehl daraus, Anhänger eines starken Staates zu sein. Dessen Stärke aber sollte es sein, den Bürgern Gerechtigkeit, Unversehrtheit und Freiheit zu garantieren (Freiheit im Kant’schen Sinne: an Verantwortung geknüpft). So bewegte sich Solschenizyn als politischer Kopf wie als Literat auf schmalem Grat zwischen „autoritär“ und „totalitär“, zwischen „patriotisch“ und „nationalistisch“. Das machte den Umgang mit ihm so schwer, zeitlebens und auch noch nach seinem Tode. Gleich ob in Rußland oder irgendwo im Rest der Welt: In den Nachrufen und Kondolenzbekundungen trauerte da so mancher eher seinem eigenen Traumbild nach denn dem real existierenden Alexander Solschenizyn. In solchen Zerrbildern haben natürlich gewisse Facetten keinen Platz. Etwa die, daß er stets an der Seite der Opfer stand, ohne Ansehen der Person oder der Nationalität, und sich stets gegen die Täter stellte, ebenfalls ohne Ansehen der Person und der Nationalität. Das gehört eben auch dann zum Bild dieses großen Literaten und tapferen Dissidenten, wenn es um Opfergruppen geht, die einer ideologisch manipulierten veröffentlichten Meinung nicht genehm sind (die Leser dieser Zeitung wissen, wer gemeint ist).

Dies alles in seinem Werk und in seinem Leben aller Welt bewußt gemacht zu haben ist das bleibende Verdienst des Alexander Issajewitsch Solschenizyn. Und daher nennt man ihn zu Recht „das Gewissen unserer Zeit“.

Foto: Stand stets auf der Seite der Opfer: Alexander Solschenizyn


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