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13.09.08 / Bitte nicht ins Gesicht sehen / Ecuador: Wie frühere Kopfjäger zu Herren von Ferien-Gästehäusern wurden – Wiedergutmachung für Schäden der Ölförderung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 37-08 vom 13. September 2008

Bitte nicht ins Gesicht sehen
Ecuador: Wie frühere Kopfjäger zu Herren von Ferien-Gästehäusern wurden – Wiedergutmachung für Schäden der Ölförderung

Vier Wände? Wer braucht schon vier Wände! Vier Pfosten genügen. Die tragen das Dach, das Dach hält den Regen ab. Mehr braucht kein Mensch. So haben die Leute vom Stamm der Achuar gedacht, und so denken sie heute noch, wenn sie unter sich sind. Es dauerte eine Weile, bis sie lernten, daß anderen Menschen vier Pfosten nicht genug sind, wenn sie sich zum Schlafen legen, daß sie eine Tür haben wollen, die sie hinter sich zu machen können. Darum bauen die Achuar jetzt Hütten mit vier Wänden und Türen, die man hinter sich zu machen kann. Für die Fremden bauen sie so. Für sich selbst bauen sie immer noch so wie zu der Zeit, als ein Missionar sie im ewig feuchten Regenwald Ecuadors entdeckte. Das liegt nur 40 Jahre zurück. 

Damals waren die Achuar noch Kopfjäger. Heute sind etliche von ihnen Koch, Kellner, Zimmerjunge, Spurenleser, Kanufahrer. Kurz, sie machen alles, was notwendig ist, um eine Lodge im Regenwald, fernab aller Zivilisation erfolgreich zu führen. Seit Beginn dieses Jahres gehört die Kapawi-Lodge den Achuar. Und darum haben die Achuar in kurzer Zeit sehr viel mehr lernen müssen, als Hütten mit vier Wänden zu bauen. Mit der Übergabe begann ein Experiment, dessen Ausgang keineswegs abzusehen ist.

Als die Lodge vor zehn Jahren gebaut wurde, da war das eine Art Wiedergutmachung. Seit den 60er Jahren wird im Regenwald Ecuadors Öl gefördert. Seit das Öl fließt, wird der Regenwald in den nördlichen Regionen vergiftet, stirbt das Land, auf dem einst zwei Indianerstämme lebten.  

Um die Wiederholung einer solchen Katastrophe zu verhindern und um für die Indianer eine neue Lebensgrundlage zu schaffen, entwickelte Carlos Pérez Perasso das Konzept der Kapawi-Lodge. Die Achuar sollten jeweils für ein paar Tage Gastgeber von Touristen sein. Auf dem Gebiet des Tourismus kannte sich Perasso aus, schließlich betreibt seine Familie eine große Reiseagentur, sie besitzt das größte Schiff und die größte Zeitung des Landes. Der Mann durfte also annehmen, seine Erfahrung reiche aus, um das Projekt Kapawi zu entwickeln.

300 Kilometer fern aller Straßen und Wege ließ Perasso die Kapawi-Lodge von den Achuar bauen, auf dem Land der Achuar und in der Weise der Achuar, also aus Holz, Lianen und Palmblättern, ohne einen einzigen Nagel (aber mit Wänden!). Bis 2011, so hatte Perasso kalkuliert, würden die Investitionen wieder erwirtschaftet sein. Und bis dahin würden die Achuar ausreichend Zeit haben, den Umgang mit Fremden zu lernen. Doch die Rechnung ging nicht auf. Die Lodge ist nur mit einem Kleinflugzeug zu erreichen. Das kann auf der unbefestigten Piste aber nur starten und landen, wenn es drei Stunden lang nicht geregnet hat. Drei Stunden ohne Regen sind im Regenwald eine ziemlich lange Zeit. Da kommt dann einiges zusammen an Tagen, die den Gästen für unfreiwillige Verlängerungen des Aufenthalts nicht in Rechnung gestellt werden. Oder an denen die Gäste gar nicht erst anreisen können.

Für den laufenden Betrieb genügen die Einnahmen wohl auch unter diesen Gegebenheiten, aber nicht für den Zinsdienst.

Die Achuar auf den Kontakt mit Fremden vorzubereiten, gelang bei jenen, die in der Lodge arbeiten. Allerdings werden auch die Gäste auf den Kontakt mit den Achuar vorbereitet – und das ist auch notwendig. Bereits vor dem Flug in den Regenwald werden den Besuchern Verhaltensregeln mit auf den Weg gegeben. Die wichtigsten Regeln des Regenwald-Knigge für den Besuch eines Dorfes lauten: Erst sprechen, wenn der Gastgeber dazu auffordert. Niemand berühren und Kindern nichts schenken. Männliche Touristen dürfen den Indianerfrauen nicht ins Gesicht sehen, vielmehr müssen sie den Blick abwenden. Fotografieren im Dorf ist nicht erlaubt. Und schließlich: Der Gastgeber darf nicht beleidigt werden, indem der Willkommenstrunk abgelehnt wird. Das Getränk heißt Chicha und ist berüchtigt. Für die Zubereitung dieses Getränks kauen die Frauen Maniok, spucken es in ein Gefäß aus Ton und gießen Flußwasser dazu. Durch die Gärung entsteht Alkohol – die Indianer lieben das leicht berauschende Maniok-Bier, das auch den Hunger betäubt. Wer eines der abgelegenen Dörfer der Achuar besuchen darf, der erhält unweigerlich eine Schale mit diesem Getränk als Willkommensgruß. Allerdings sind die Indianer gnädig, sie erwarten nicht, daß der Besucher trinkt. Es genügt, wenn er so tut.

Die Achuar leben nach ihren Gesetzen und in ihrer Tradition. Kontakt mit der Welt außerhalb des Regenwaldes haben nur wenige von ihnen, und selbst war kaum einer jemals außerhalb des Dschungels. Doch einen haben sie nach Quito geschickt. Der studierte Tourismus, um die Kapawi-Lodge später einmal zu managen.        Klaus J. Groth

Foto: Die Natur erleben: Indianer erklären den Gästen den Regenwald.


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