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20.09.08 / Niedergang einer Weltsprache / Russisch wird immer mehr zu einer Nischensprache – Jährlich 700000 Russen weniger

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-08 vom 20. September 2008

Niedergang einer Weltsprache
Russisch wird immer mehr zu einer Nischensprache – Jährlich 700000 Russen weniger

Die russische Sprache ist auf dem absteigenden Ast. Noch in den 1970er Jahren sollen 500 Millionen Menschen Russisch beherrscht haben, doch mit dem Ende der Sowjetunion begann auch der Niedergang der russischen Sprache.

Zwar gibt es seit 1991 die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), allerdings versinkt sie immer mehr in der politischen Bedeutungslosigkeit. In immer weniger Ländern ist Russisch noch Amtssprache, zudem ist sie auch immer seltener Unterrichtssprache und wird in den meisten UdSSR-Folgestaaten massiv vom Englischen verdrängt. Dabei hat die Muttersprache der Russen durchaus ihren Reiz: grammatische Präzision, poetische Farbigkeit und lakonischer Witz zeichnen sie aus. Das Elend des Russischen war jedoch, daß es im frühen 20. Jahrhundert die bolschewistischen „Reinhauer“ verdarben. So urteilte der Linguist Afanasij Selischtschew 1927 in seinem Buch „Sprache der revolutionären Epoche“, in dem er das aus Kirchen-, Bürokraten-, Militär-. und Gaunersprache komponierte Idiom von Lenin &. Co. gnadenlos entlarvte.

Nach 1945 wurde dieses „Moskauderwelsch“ (wie Karl Kraus es verhöhnte) obligatorische Norm in Osteuropa, zudem schulisches Pflichtfach, gelehrt in erschreckender Primitivität und tödlicher Langweiligkeit. Hätte die DDR die Ideen, Ratschläge und Lehrbücher ihres großen Slawisten Wolfgang Steinitz (1905–1967) berücksichtigt, dann wäre diese Kompetenz wohl herausgekommen – so aber konnte in der DDR (fast) niemand Russisch, weil es als staatlich verordnete Sabotage einer Weltsprache vermittelt wurde.  

Anderswo war es genauso. Wie der russische Linguist W. Belusow 1998 in der „Enzyklopädie Russische Sprache“ beklagte, galt Russisch als „Sprache der Besatzer und des Totalitarismus“, dessen Kenntnis „politisch schädlich“ sei. Die Literatursprache von Puschkin, Lermontow und Tolstoi litt darunter, von Verbrechern wie Lenin und Stalin zum sprachlichen Signal für GULag, KGB und Massenmord erniedrigt worden zu sein. Flieht die Welt vor Russisch?

Russisch – erst 1917 zur „Staatssprache“, 1938 zur „Pflichtsprache“ in der UdSSR proklamiert – ist gegenwärtig die siebtgrößte Sprache der Welt, nach Chinesisch, Englisch, Spanisch etc., und eine der sechs offiziellen Arbeitssprachen der Vereinten Nationen. Im „nahen Ausland“ (Ex-Sowjetunion) wird Russisch zum alleinigen Medium der russischen Diaspora: Ukraine 11,35 Millionen, Kasachstan 6,23 Millionen, Usbekistan 1,65 Millionen, Belarus 1,34 Millionen und so weiter. Auch in Westeuropa und in Übersee leben Russen, aber den Niedergang ihrer Sprache halten die nicht auf.

Die russische Nation vermindert sich jährlich um rund 700000 Menschen, wird im Jahre 2050 ein Drittel kleiner als gegenwärtig sein und im Jahre 2100 mehrheitlich aus Immigranten und deren Nachkommen bestehen. Noch dramatischer ist der sprachliche Rückgang. Russisch war die Amtssprache im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), im Warschauer Pakt und in anderen überstaatlichen Organisationen. Russische Waffen und russische Technik konnten nur mit Kenntnis der russischen Sprache bedient werden. Russisch war Pflichtfach in allen Schulen, viele junge Osteuropäer studierten an russischen Hochschulen. Nach Schätzungen der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN) lebten 1990 in Osteuropa und Jugoslawien 44 Millionen Menschen mit guten und sehr guten Russischkenntnissen.

Anderthalb Jahrzehnte später gab es noch 19 Millionen Menschen mit Russischkenntnissen, davon nur ein Drittel aktiver Sprecher, der Rest konnte wegen der Nähe slawischer Sprachen aus der eigenen Muttersprache ungefähr erraten, wovon die russische Rede war. Osteuropa hat einen radikalen Schnitt gegen-über der russischen Sprache vollzogen.

Wer einmal an Sowjet-Hochschulen studierte, verheimlicht das lieber, um nicht als „Einfluß-agent Moskaus“ zu gelten. „Nachschub“ kommt ohnehin nicht mehr: Betrug der Anteil osteuropäischer Direktstudenten zu Sowjetzeiten 23 Prozent, so waren es 2002/03 nur noch 1,5 Prozent, rund 1000 Menschen. 1990 sollen an osteuropäischen und jugoslawischen Schulen zehn Millionen Kinder Russisch gelernt haben, 2004/05 waren es noch 935000. Allein in Polen ging 1992 – 2004 die Zahl der Russischlernenden von 4,2 Millionen auf 500000 zurück. In Ungarn, Rumänien, Tschechien, Slowenien, Bosnien und Kroatien ist der Russischunterricht praktisch „ausgestorben“: Je nach Land entscheiden sich 0,1 bis ein Prozent der Schüler für Russisch, das hinsichtlich seiner Popularität mühevoll den dritten Platz hinter Englisch und Deutsch hält. In Schweden und der Schweiz sank in den 1990er Jahren die Zahl der Russisch-Schüler um 75 Prozent, in Deutschland sank sie um das Zweifache, in Frankreich um das Zweieinhalbfache und so rückläufig weiter. Eingangs der 1990-er Jahre lernten in Westeuropa 550000 Jugendliche Russisch – 2006 waren es nur noch 225000. Zudem wählten immer mehr Schüler, die noch Russisch lernen, es als zweite oder dritte Fremdsprache.

Doch es gibt weiterhin gute Gründe, Russisch zu lernen? Es bleibt eine Weltsprache und ist eine europäische Literatursprache, deren Kenntnis uns zur Begegnung mit unserem „strategischen Partner“ Rußland auf Augenhöhe verhilft. Weil es die „Gorbi-Sprache“ ist, die uns mit „Glasnost“ und „Perestrojka“ die Wiedervereinigung erleichterte. Und weil es uns hilft, die (laut Leonid Parfjonow) zwei Grundfragen der russischen Geschichte zu verstehen: „Was tun? Wer ist an allem schuld?“        Wolf Oschlies 

Foto: Russisch-Unterricht in der DDR: Die Sprache des „Bruderstaates“ war Pflichtfach und entsprechend unbeliebt.


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